89/90, Schauspiel Leipzig
Polyphonie der Wendezeit
"Ich will immer artig sein", so verspricht der Chor in adretten Röcken, Blusen, Anzugshosen und Hemden. Doch unter ihnen brodelt es. Mitten unten ihnen sitzen im Jugend-Wehrlager der späten DDR solche, die den Ton des Brigadeleiters mit denen der Nazis vergleichen, die die Diskussionsaufforderungen der Staatsbürgerkunde-Lehrerin scheinheilig finden, die das Einerlei nur schwer aushalten, die lieber ihre Zeit mit dem Üben für ihre Bandkarriere nutzen wollen. Sie stehen immer wieder auf, während der Chor weiter singt und schreien ihre geheimen Gedanken heraus.
Die Jahre 89 und 90 hat Peter Richter in seinem biographischen angehauchten Wendezeit-Roman, der unter Jugendlichen in und um Dresden spielt, verarbeitet. Der Erzähler erinnert sich an "paradiesische Nächte" im Freibad, wenn die ganze coole Jugend sich zu verbotenen Runden im Pool traf. Da waren alle da, der Lange, der Kurze, der Kleine und der Geschleckte. Doch während er sich mit seinem Freund oberhalb der Bühne in einem Tonstudio anhand alter Fotos an diese Zeit erinnert, vollführen unten auf der Nebel umwaberten getäfelten Raum seltsame Kinderklone mit ihren Badetücher ein eigenwilliges Wasserballett. Wie in einem Traum ziehen die gleichförmigen Maskenwesen ihre Bahnen.
Aus dieser langweiligen, gleichförmigen, klar geregelten Kindheit wollten der Erzähler und sein Freund den Grundstock für eine erfolgreiche Band mit geilen Songs generieren. Doch dazu kam es nicht mehr. Diese Träume wurden unerwartet schnell unterbrochen.
Unter die Lieder des Chores mischen sich allmählich Elemente aus Punksongs und die Gewissheiten sind passe. Plötzlich ist die Mauer offen und die holzgetäfelte Aula-Sachlichkeit öffnet sich und auf der Rückseite zeigt sich eine riesige LED-Wand, auf der Werbebilder in Dauerschleife laufen. Mit ihren Kindsköpfen auf den dicklichen Körpern stehen die DDR-Bürger vor der Flimmer-Konsumwelt, die sich plötzlich offenbart. So viele der unendlichen Möglichkeiten tun sich nun auf. Man könnte, man müsste! Ein Leben im Konjunktiv statt eines innerhalb eines von Stachelzaun umgrenzten Zone. Wo zuvor die Wände geschlossen waren, verschwammen die Wege nun im Nebel. Ein Start-Up gründen? Mit Webeaufdrucken auf Klodeckeln vielleicht? Sich einer Partei anschließen? Doch eher eine neue Partei gründen? Weggehen oder hier etwas losmachen?
Doch so schnell die Öffnung geschah, so schnell dreht sich die Welt wieder zurück. In dem hölzernen Denkraum der Wende-DDR spielen sich nun andere Entwicklungen ab. Gab es vorher schon Skins, die sich mit den Möchtegern-Hippies beulten, so kommt es jetzt zwischen Neo-Nazis und Antifas zu handfesten Auseinandersetzungen. Den Baseballschläger tragen plötzlich alle auf der Bühne im Gepäck, wenn sie zwischen dem Chor hindurch laufen. Der Ich-Erzähler gibt zu: "Ich wurde links, weil die anderen rechts waren." Und er erlebte, wie seine ehemaligen Freunde plötzlich die Seiten wechselten. Wie aber die angehimmelte Schöne aus der Schule, die in die DDR-Flagge gewandet stets eine glühende Vertreterin dieses Staates war, sich treu bleibt und auch nach der Wende nur Verachtung für ihre nach Bananen und Begrüßungsgeld gierenden Mitbürger hat.
Regisseurin Claudia Bauer macht den Chor unter dem mit vollem Körpereinsatz agierenden Leiter Daniel Barke zu dem bestimmenden Element ihrer gelungenen Inszenierung für das Schauspiel Leipzig . Sie verfällt nicht in den Fehler, die Episoden des Romans auf der Bühne folkloristisch real umzusetzen. Sie hebt sie so auf eine übergeordnete Ebene, die einen größeren Zusammenhang sucht und vor voreiligen Schlussfolgerungen schützt. die Entwicklungen von 89/90 werden von ihr nicht mit einseitigen Ost- oder Westklischees belegt. Bauers vielschichtiger Verschneidetechnik aus Musik, Choreographie und Text erschafft stattdessen differenzierte Multi-Layer-Bilder mit sich vielfältig überlagernden Gefühlszuständen. Wenn die Umbruchzeit der Pubertät in die Umbruchzeit der Wende fällt, kann so eine fast unentwirrbare Polyphonie der Ereignisse, der Erfahrungen und der Emotionen entstehen, wie Bauer sie gekonnt auf der Bühne erzeugt.
Birgit Schmalmack vom 14.10.19