Sie sind hier: Leipzig

Herz der Finsternis, Lindenfels



Tappen im Dunkeln

Ich sehe nichts, ich verstehe nichts. Marlowe (Sebastian Schneider) tappt im finstersten Nebel mit vorsichtigen Schritten durch das flache Wasser. Die Zuschauer sind ebenso blind wie Marlowe. Sie hören nur seine Füße, wenn er sie vorsichtig ins Wasser setzt. Wie er tappen sie im Dunkeln. Sie tauchen zusammen mit Marlowe in die Finsternis des Dschungels ein. Während er von seinen vergeblichen Versuchen das undurchdringliche Dichtung mit all seinen Lebewesen, die er nicht richtig erkennen kann, zu verstehen berichtet, versuchen sie sich einen Reim auf das Gehörte zumachen. Wer den Roman von Joseph Conrad „Herz der Finsternis“ kennt, ist klar im Vorteil, denn er kann die Bruchstücke, die Marlowe ihm hinwirft, zu einem Handlungsstrang zusammensetzen. Marlowe ist auf der Reise zu dem Forscher Kurtz, um sich seine erfolgreiche Dschungelstation anzusehen. Dazu heuert er eine Besatzung an, die ihn auf verschlungenen Flussläufen dorthin führen soll. Kurz vor ihrem Ziel werden sie jedoch angegriffen und der Kapitän wird tödlich getroffen.

Als Marlowe von den Schüssen berichtet, knallen Trommelschläge durch den Bühnenraum. Während schon ein Feuerschein zaghaft den Raum zwischen den Zuschauern erhellte, macht jetzt rotes Scheinwerferlicht aus der Bühne einen geheimnisvollen Kuppelsaal, in dem die Schlagzeugerin im Gegenlicht zu sehen ist. Sie trommelt Marlowe zu Boden. Er fällt ins Wasser, bäumt sich wieder auf, fällt wieder zu Boden. Als die Schlagzeugerin ihre Schlagstöcke weglegt, erzählt sie von einem Traum. Sie hat von einer Begegnung mit Pocahontas geträumt, die sich über die falsche Darstellung ihres Lebens im der Hollywoodverfilmung beschwert hätte. Die Ausbeutung der Geschichte einer Häuptlingstochter durch den Westen kann als ein weiterer Kolonialisierungsakt gesehen werden. Das die vermeintlich Unterdrückte im Traum dagegen aufbegehrt, lässt beide - Marlowe im Wasser und die Schlagzeugerin Anja Müller auf der Bühne - die Fäuste in die Luft recken. Diese Tochter eines Indianerhäuptling emanzipiert sich von der ihr zugesprochenen Stellung der Ausgebeuteten und wird zu einer Vermittlerin zwischen den Kulturen.

Regisseur Nikolas Darnstädt setzt zunächst mutig alles auf eine Karte. Er wagt eine Inszenierung in völliger Finsternis, um das Einfühlen in Marlowes Gefühlslage zu ermöglichen. Das ist konsequent und schlüssig. Diese Konsequenz beeindruckt. Das Wasserbassin, um das die Zuschauer an drei Seiten sitzen, ist als dunkel spiegelnde Fläche im Nebel mehr zu hören als zu sehen. Die ausdrucksstarke Stimme von Sebastian Schäfer entführt in den Dschungel, weniger den tatsächlichen als vielmehr den unserer Vorstellung, in den des Nicht-Verstehens. Als das Licht angeht, mischt Darnstädt weitere Karten ins Spiel. Marlowe vollführt eine irren Wassertanz vollführen. Die Pocahontas-Story scheint dem Nichtverstehen eine fast einfache Botschaft entgegen zu stellen. Doch zum Schluss löst der Regisseur alle vermeintlichen Gewissheiten wieder auf: "Ich ---sehe ---nichts." sind ihre letzten Worte.

„Herz der Finsternis“ soll die "Geschichte der europäischen Ursünde", des "Urverbrechens unserer heutigen neoliberalen Wirtschaftsform, die Geschichte von unserer individualistisch zerrütteten Gesellschaft" erzählen, verrät der Ankündigungstext. Darnstädt verzichtet dafür allerdings auf eindeutige Bilder und Hinweise, wie diese Geschichte zu lesen ist. Eine herausfordernde Inszenierung, die auch am Ende noch viele Fragen offen lässt.

Birgit Schmalmack vom 14.10.19