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Nur nichts falsch machen!

Bodentiefe FEnster vom TD Foto: Fabian Raabe




Alles besser machen oder zumindest alles gut machen. Das will Sandra unbedingt. Nicht zuletzt deswegen hat sie zusammen mit ihrem Mann Hendrik eine Baugenossenschaft gegründet. Doch nun wohnt sie in dem daraus hervor gegangenen Wohnkollektiv und merkt einfach nur, dass alles gut zu machen, nicht ausreicht für ein Leben, das sich auch gut anfühlt. Macht sie dasselbe mit ihren zwei Kindern, für sie doch diesen beschaulichen, behüteten Platz zum Aufwachsen mitten in der Stadt sichern wollte, was sie auch ihrer Mutter vorwirft? Das sie sie angelogen habe, indem sie ihr sagte, dass alles besser werden würde? Nichts ist besser geworden. Dabei hielt sich Sandras Mutter doch für so fortschrittlich. Als Alt-68ziger war sie angetreten alles anders machen zu wollen. Doch nichts verändert sich. Die Welt ist ein Trauerspiel, in dem ewig die gleiche Leier abgespult wird.
Das enge Aufeinanderhocken macht es auch nicht einfacher. Die viel beschworene Balance aus Nähe und Distanz ist in Wahrheit ist der selbst auferlegte Zwang zur Gemeinschaft und auch nur ein anderes Wort für Kontrolle. Jeder kommentiert das Verhalten des anderen. Jeder hat gute Ratschläge, sei es für Kindererziehung, zum Komposthaufen-Bestückung oder zur Ökobilanz.
Der Theaterdiscounter hat den Roman "Bodentiefe Fenster", von Anja Stelling, der eine Form des Wohnens in der Großstadt sehr kritisch unter die Lupe nimmt, als Streamingprojekt umgesetzt. Es ist dem Team um Georg Scharegg hervorragend gelungen. Dazu gliedert sich das Onlinetheater in drei Teile: Zuerst werden in kleinen Szenen die Befindlichkeiten und Probleme der Wohnprojekt-Bewohner anschaulich durchgespielt. Ob über den Neid erzeugenden Überfluss in einigen Kinderzimmern, über die Diskussion um das perfekte Backrezept, über den Wettbewerb um einen gelungenen Kindergeburtstag, über die belauschten Eheprobleme oder über die Aufarbeitung der Elternbeziehungen geht - die Konflikte werden von den nur drei Schauspielern mit einer gehörigen Portion Selbstironie vorgetragen. Die Kulisse bildet dabei ein Puppenhaus, was auf einfache und stimmige Weise deutlich macht, wie einsehbar die privaten Räume für alle anderen sind. In diese Puppenstubenräume werden die Gesichter oder Körper der jeweiligen Personen virtuell hinein gebeamt.
Der zweite Teil ist als eine Haussitzung gestaltet, in der neben den drei Schauspielern auch zwei des Discounter-Teams mit am Tisch sitzen. Doch gleichzeitig nehmen über 100 weitere Plenumsmitglieder daran teil. Denn alle Zuschauer*innen sind aufgerufen sich per Chat an der Haussitzung miteinzubringen. Natürlich ist es unmöglich auf diese Weise Beschlüsse zu fassen, aber das wäre auch schon bei den Fünfen am Tisch, völlig unrealistisch gewesen, wie die Live-Diskussion überdeutlich zeigt.
Der letzte Teil spielt dann bei Meeresrauschen auf der Insel Juist. Sandra ist zur Erholung verschickt worden. Doch wie soll sie ausgerechnet hier in der Einöde wieder zur Ruhe finden`? Während sie angehalten wird, die Konflikte in Therapie-Rollenspielen zu verarbeiten, wird ihre Überforderung nur noch offensichtlicher.
Das war wirklich mal ein Streaming Innovation, die tatsächlich das Gefühl von Miteinander, von der Einmaligkeit des Zusammenkommens erschuf. Eine echte Premiere, die nichts nachahmte sondern etwas Neues erschuf, mit den Mitteln, die im Moment zur Verfügung stehen. Das Gefühl der Dankbarkeit der Zuschauer*innen entlud sich in einem minutenlangen Applauschat, der darin gipfelte, dass man sich zu einem virtuellen Kneipengang verabredete. So kann sogar gestreamtes Theater Inhalte vermitteln und gleichzeitig Spaß machen.
Birgit Schmalmack vom 4.2.2020