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Hohe Sprachkunst

Die Bühne schwarz wie die Nacht. Ein lautes Rauschen ertönt. Wie ein Sturm am Meer, der aufzieht, heranbraust, Unheil verkündet und immer stärker wird. Bis die Lautstärke in den Ohren schmerzt.

Plötzlich ein Mund in dem totalen Schwarz, aus dem heraus es spricht. Aus diesem Mund purzeln die Worte, die Sätze, die Fragezeichen, die Ausrufezeichen, das Erstaunen, das Fragen, ohne dass die dazugehörige Person sichtbar wird.

So lange hat sie kein Wort gesprochen, diese Frau, die zu ihrem Erstaunen erkennen muss, dass sie schon siebzig ist. Ihr liebloses Leben hat ihren Mund bisher verschlossen. Doch nun ist das Wunder passiert. Zuerst gab es eine Stille, dann ein Rauschen und plötzlich höre sie Laute, Wörter, Sätze, die nur ihre eigenen sein können. "Wer? Wer? Ich? Nein! Sie!" Sie hört sich selber zu, erstaunt über die Möglichkeit die Sprache gefunden zu haben.

Es ist faszinierend Dagmar Manzel bei diesem Monolog "Nicht ich" zuzuhören. Sie gestaltet die Wortkaskaden wie eine spannungsgeladene Geschichte, die pausenlos rätseln lässt, wie das Schicksal diese Frau so sprachlos hat werden lassen.

Ganz anders ist die nächste Szene "Rockaby" gestaltet. Hier kommt die Stimme Manzels aus dem Off. Sie sitzt derweil stoisch schaukelnd in einem Schaukelstuhl. Nur ab und zu haucht sie ein bittendes "Mehr!", wenn die Stimme Anstalten macht, ihren Monolog mit einem „Zeit dass sie aufhört„ zu beenden. So setzt die Stimme zu einer weiteren Wiederholungsschleife an. Immer wieder setzt sich darin die Frau an ihr einziges Fenster, schaut mit ihren hungrigen Augen in die gegenüber liegenden Fenster um eine weitere lebende Seele zu erblicken. Doch alle Rollos bleiben geschlossen. So sehr sie ihre Augen auch wandern lässt, sie wartet vergeblich auf das Gesehen Werden. Doch endlich, ein Rollo ist hoch gezogen. Zwar erkennt sie niemanden dahinten, aber nun ist sie bereit. Sie steigt die Stufen herab und setzt sich in den Schaukelstuhl, in dem schon ihre Mutter friedlich gestorben ist. "Wipp es weg," sagt sie zum Schluss. Manzel schaukelt mit geschlossenen Augen und ihr Kopf sinkt zur Seite.

Die letzte Szene der drei Dramolette ist das von Arnold Schönberg vertonte Gedicht "Pierrot Lunaire" von Albert Giraud.

Nach dem nächsten Black steht Manzel als Junge im Matrosenanzug auf der Bühne, sie schleift das weiße hochbeinige Kinderbett an die Rampe, schnappt sich ihr Kuscheltier und legt sich ins Bett. Dieser Junge wird seinem Hasen davon erzählen, wie der Mond zu einer Reise durch sieben Gefühlszustände animiert. Von Künstlerinspirationen, von Liebesfreuden, von Angstzuständen, von Schreckgespinsten, von Todesgedanken und schlussendlich von der Heimkehr, bei der der Mond mit seinen Strahlen den Weg weist. So stellt Manzel zum Schluss ihren Schaukelstuhl auf ihr Bett und schaukelt bis in die alte Heimat. Bevor das Licht ganz erlischt, ist nur ein Strahl auf ihrem Gesicht zu sehen - während sie noch die Lippen bewegt, aber kein Ton mehr zu hören ist.

Fünf Musiker unter der Leitung von Christoph Breidler begleiten Manzel bei ihrem Sprechgesang zu Schönberg Musik. Genial trifft sie unter der sparsamen Regie von Barrie Kosky genau die Stimmung, genau den Ton, genau die Atmosphäre. Das ist hohe Kunst. Eine Leistung, die Manzel ebenso meistert wie die beiden Monologe von Samuel Beckett. Fünfmal musste sie verdientermaßen zum Schlussapplaus auftreten, bevor sie das Publikum entließ.

Birgit Schmalmack vom 7.10.20