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Vertraut ihr mir?

Remote Mitte, MGT


"Darf ich Sie duzen?", fragt die Stimme aus dem Kopfhörer. Noch sitzen die Teilnehmer von „Remote Mitte„ auf dem Invaliden Friedhof zwischen den Gräber. Die Endlichkeit markiert also den Anfang. Doch bald werden sie die Grenze zwischen Leben und Tod überschreiten. Immer den Anweisungen folgend, die ihnen per Kopfhörer übermittelt werden. Werden sie widerstandslos gehorchen? Die weibliche Stimme „Julia„, die sich nicht ganz natürlich anhört, ist bemüht Vertrauen zu erzeugen. Kleine Entscheidungen erlaubt sie ihren Followern. Gehen sie auf dem Fußgängerweg oder Radweg? Sind sie also eher regelkonform oder provokativ ? Oder vielleicht ist die Aufmüpfigkeit auch nur ein Zeichen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben?

Am Kanal entlang geht es zum Ersatzteillager für Menschen, der Charite, wo ihre Reparaturfähigkeit verbessert wird. Dieses Problem hat Julia nicht. Sie hat keinen Körper. Um Menschen zu imitieren, braucht sie ihre Daten. Studiert sie ihr Verhalten. So ist die Führung ihrer heutigen Horde, wie sie ihre Gruppe nennt, eigentlich ein Datensammelprojekt. Ab und zu gönnt sie ihnen eine kleine Pause, die sie nicht braucht. Doch auch dann nutzt die KI die Gelegenheit, die Menschen zu studieren. Setzen sie sich in einer Kreis? Kommen sie sich näher? Versuchen sie Kontakt zu knüpfen?

Als die Horde hinter dem Futurium an der Spree zum Hauptbahnhof geht, werden sie aufgefordert einen Gegenstand aus der Tasche zu nehmen, der ihnen wichtig sei und ihn in die Höhe zu halten. Sind sie jetzt ungewollt zu Teilnehmern einer Demonstration geworden? Für was?

Die obere Etage des Hauptbahnhofs wird zur Theaterbühne. Doch wer sind hier der Zuschauer*innen und wer die Schauspieler*innen? Mit der S-Bahn geht es zum Alexanderplatz.

Auf dem großen Platz vor dem Funkturm ist die Rollenverteilung klar: Er wird zum Dancefloor erklärt und die Horde zu Performern für die wartenden Touristen. Und für all gegenwärtigen Überwachungskameras. Danach wird es besinnlich. In der St. Marienkirche nimmt man in den Bankreihen Platz und denkt über die möglichen Spuren nach, die Menschen hinterlassen können. "Werden es nur Datenspuren sein?", fragt Julia, deren Stimme sich plötzlich wandelt.

Was für eine Wirkung hat es, wenn die Stimme aus dem Off zu einer männlichen Stimme wird? Wem vertraut man mehr: Julia oder Peter? Spannend dass ausgerechnet ein Peter die Horde jetzt spaltet. Er erklärt jetzt eine Hälfte zur Elite und lässt sie vorangehen. Ein interessanter Moment in der Tour. Wie fühlt man sich als Elite? Hat das einen Einfluss auf das weitere Verhalten? Doch allzu schnell um diese Aspekte zu vertiefen, ist man wieder vereint. Wird die Zeit kommen, dass Julia oder Peter auch das Essen, das Trinken das Verhalten, die Medikamenteneinnahme oder das Sportprogramm vorschreiben werden?

Zum Schluss geht es hoch in den siebenten Stock eines Geschäftshauses. Auf der Dachterrasse darf man das Gewimmel unten betrachten, eine neue Perspektive einnehmen und dem Traum vom Abheben nachhängen. Was wenn die Stimme jetzt den Sprung anweisen würde?

Viele Fragen werden während dieses kleinen Stadtspazierganges von Rimini Protokoll gestellt. Nicht alle Gedanken sind völlig neu. Wenig wird fokussiert. Doch der Mischung so vieler verschiedener Ebenen sorgt dafür, dass wohl für jeden ein paar kleine Aha-Erlebnisse dabei sein werden, die er oder sie mitnehmen wird.

Birgit Schmalmack vom 8.9.20