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Zurückgeworfen auf sich selbst

tell me a better story Foto von cyan


Im Augenblick durchlebt jede*r eine Phase seines Lebens, in der man mehr auf sich selbst zurückgeworfen ist als sonst. Dem Abend „tell me a better story“ merkt man diese Erfahrungen der letzten Zeit an. Von ihnen erzählen alle drei Choreographien des ersten Teils, die Toula Limnaios mit ihrem Ensemble entwickelt hat.
Karolina Wyrwal begegnet ihrem Spiegelbild. Es steht vor ihr in genau derselben Haltung wie sie selbst. Denn es ist eine Schaufensterpuppe. Das lässt sie darüber nachdenken: Wer bin ich? Wie bin ich so geworden, wie ich jetzt bin? Hätte ich auch anders werden können? Im Zuge dessen reflektiert sie auch ihr Frausein. Sie setzt sich und ihrem Alter Ego eine lange rotblonde Perücke auf, zieht beiden einen grasgrünen Minirock und hohe Schuhe über. Sie versucht das Tanzen auf dem unsicheren Halt eines Stöckelabsatzes, wenn sie gleichzeitig noch ein Bein in die Höhe streckt. Sie probiert ungelenke, vorsichtige, wütende und verzweifelte Schritte der Selbstfindung aus. Dann fängt die Puppe an mit ihr zu reden. Und es wird klar, ihr Spiegelbild ist eine KI, die nur vorgibt Karo zu sein, die vielleicht die ganze Zeit Karoline nur ausspioniert hat. Zum Schluss wiederholt die Pseudo-Karo immer nur einen Satz: „As you like..“ Eine selbstreflexive Kommunikation, die nur vorspielt eine zu sein. Karolina bleibt einsam zurück.
Hironori Sugata, schleift seine kopflose dunkle Seite an einem Galgenstrick auf einem Rollbrett herein. Er wirbelt sie herum und schleudert sie durch den Raum, bis er sich seine schwarzen Gefühle schließlich umschnallt. Sie sind nun ein Teil von ihm. Er ist dadurch zweigeteilt. Eine helle und eine dunkle Seite. Er kann sich mit ihr bewegen, doch wirkt eingeschränkt und beschwert. Er lebt nun mit seinen dunklen Gefühlen. Bis er sich zum Schluss selbst auf die Rollbahre legt und von einem Assistenten aus dem Raum gerollt wird, auf Dauer mit seinen beiden Seiten vereint.
In dem Duo von Laura Beschi und Alessio Scandale geht es um die Beziehung eines Liebespaares, die in der letzter Zeit einer zusätzlichen Belastungsprobe unterzogen wurde.. Zu Beginn versucht sie vor ihm wegzulaufen, doch sinkt nach wenigen Schritten immer wieder ohnmächtig zu Boden. Bevor sie aufschlagen kann, fängt er jedoch immer zuverlässig auf. Diese Vertrauenserprobung führt zu einer Phase des engen Beieinanders, des aufeinander Herum-Rollens und des ständigen Umeinander-Kreisens, Doch auch zum einen Nicht- Loslassen-Können. Eine neue folgt, in der jeder zunächst seinen eigenen Platz bespielen muss. Schließlich schwebt ein Teller aus dem Bühnenhimmel herunter. Laura Beschi balanciert ihn auf allen ihren Körperteilen, während sie von Alessio Scandale emporgehoben wird. Vielleicht ein zarter Hinweis auf das Thema der Nahrungsmittelversorgung. Zum Schluss umkreisen sie einen Tisch und scheinen mit sprechenden Gesten ihre Beziehung neu auszuhandeln. Danach testen sie aus, wie haltbar ihre Verbindung nun ist, und zwar mit einer Spagetti, deren jeweilige Enden sie in den Mund nehmen und dabei um einander herumtanzen. Wird die Nudel halten?
Drei intensive eindrucksvolle Stücke sind mit Tänzer*innen des Ensembles während des Shutdowns entstanden, die gekonnt mit emotionalem Tiefgang die Situation der nachdenklichen Vereinzelung beleuchten. Die Kompositionen von Ralf R. Ollertz und Paul Tinsley tragen perfekt zum Gelingen des Abends bei.
So intelligent und spannend kann Tanztheater auch unter diesen erschwerten Bedingungen sein.
Birgit Schmalmack vom 9.10.20