Willkommen in meinem Kopf

Neon, Thalia Foto: Fabian Hammerl



Ich bin ein Heuchler. Dieses Bekenntnis stellt Sebastian Zimmler gleich an den Anfang der Beichte. Wir haben alle den kleinen Heuchler auf unseren Ohren. Ganz nahe kommt er uns, ganz nahe bei uns müssen wir bleiben, nicht abgelehnt durch die Geräusche der Nachbar:in. Denn sehr persönlich lässt er uns teilhaben an seinem Lebensdrama. Er ist ein Heuchler, ein Blender, ein Spieler mit den Erwartungen und Wünschen seiner Umgebung. Unfähig sich selbst aus der Rechnung zu nehmen, sind alle seine Handlungen nur darauf gerichtet, möglichst viel Aufmerksamkeit und Beifall zu bekommen. Diese schmerzhafte Selbsterkenntnis ist da, doch die Lösung, bzw Loslösung von dieser egozentrischen Haltung ist fern. Alles wird ausprobiert: Hypnose, Selbsterfahrung, Meditation und letztendlich Theater. Es stellt sich heraus: ein wunderbarer Ort für Heuchler und Blender, um durch die Manipulation der Emotionen anderer Menschen Applaus zu bekommen.
Sebastian Zimmler steht unter dem pendelnden Mikrofon im vollen Scheinwerferlicht, wenn er scheinbar vollkommen ehrlich seine Fehler bekennt, wandert zwischen den runden Projektionsflächen hin und her, auf denen stets Alter Egos seiner selbst zu sehen sind. Wer ist dieser Mensch, der hier scheinbar so offen zu uns spricht? Der von sich selbst behauptet im Heuchlerprardox festzustecken? Je mehr er versuchen würde, mit seiner Heuchelei noch mehr Aufmerksamkeit zu erlangen, desto geringer werde sein eigenes Gefühl dieses zu verdienen. Während der Applaus von außen steigt, sinkt sein Selbstwertgefühl. Doch Selbsterkenntnis ist nicht immer der erste Schritt zur Besserung. Selbst die Psychoanalyse hilft nicht. Seine erwiesene, als einzigartig empfundene Liebesunfähigkeit stellt als Yuppieklischee heraus. Als Zimmler von dieser Ernüchterung berichtet, sitzt er auf der Treppe zwischen den Zuschauer:innen. Er ist zum Zuschauer seines eigenen Lebensdramas geworden. Nur ein Ausweg scheint möglich: sein Leben zu beenden. Ein Schuss fällt und ein Körper fällt zu Boden. Das leitet zu der Frage, die den Beginn von "Neon" im Thalia in der Gaußstraße markierte:
Was bestimmt den Übergang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Was passiert in der Nanosekunde, die für das Resümee eines ganzes Lebens ausreicht? Wie können die Gedankensplitter eines Menschen in die lineare Form von Wörtern und Sätzen gebracht werden? Ganz konkret: Was läuft in einem Menschen in der Nanosekunde ab, in der er auf den Abzug der Pistole drückt um sich selbst zu erschießen?
Waren das alles nur die Gedanken in dieser ultrakurzen und unendlich langen Zeitspanne, in der das Projektil vom Pistolenlauf bis in den Schädel des Mannes brauchte? Ist er nun frei und betritt eine andere Welt in der eine andere Perspektive wahrhaftig möglich ist? Kann er austreten aus seinem Ich-Knast? Zimmler zumindest: Er streift die Kleidung des Mannes ab und wird zu Zimmler.
Erneute Irritation: War er es denn nicht, der hier gerade seine Lebensbeichte ablegte? Denn der Thalia-Schauspieler und erstmaligen Regisseur Zimmler spielt mit den Identitäten genauso wie der Autor der Geschichte, die er hier auf die Bühne brachte. In "Neon" schreibt David Foster Wallace sich am Schluss selbst in seine Geschichte hinein, obwohl der Leser denken musste, dass die Geschichte von ihm selbst handeln würde. Denn der intelligente und hoch gelobte Autor und Sportler beging 2008 Selbstmord. Ein dichter, stringenter Abend, der klug die Geschichte von Wallace auf der Bühne umsetzt. Mit wenigen aber effektiven Mitteln. Die sparsam eingesetzte Musik, die klugen Videoprojektionen und die Gehirnakrobatik auf den Ohren sorgen für Irritation, Verwirrung und Anregung ohne jedes Pathos. Intim und spielerisch, manipulativ und ehrlich, nachdenklich und provokativ. Toll dass es dafür den Raum in der Studiobühne in der Gaußstraße gab. Denn den verdient diese Inszenierung unbedingt.
Birgit Schmalmack vom 21.2.22