Fest der Liebe?



Einmal im Jahr kommt die ganze Familie zusammen. Da soll heile Welt herrschen, zur Not auch ein wenig geschönt. Dafür müssen zum Teil ein paar kleinere Korrekturen vorgenommen werden. In manchen Fällen auch größere Umräumaktionen. Wie in Ellis Wohnung. Die Bestsellerautorin, die für Ehrlichkeit als Schlüssel zu langjährigen glücklichen Beziehungen wirbt, schiebt ihren über zwanzig Jahre jüngeren Freund Micha (Flavio Kiener) aus der Wohnung, damit sich ihr Ex-Ehemann (Till Huster) wieder einquartiert. Von dem ist sie schon drei Jahre geschieden, aber ihre drei erwachsene Kinder plus Anhang wissen noch immer nichts davon. Schonend beibringen nennt sie das, ist wohl aber eher dem Erhalt ihrer Karriere geschuldet. Dass auch diese alle ihre Geheimnisse haben, macht die Sache nicht besser.
Doch Elli hat nicht mit Chrissi (Caroline Kiesewetter), der neuen Partnerin ihres Exmannes gerechnet. Die schiebt kurzerhand am Nachmittag ihren Koffer in die Wohnung, wild entschlossen diesen Lügenspiel endlich ein Ende zu setzen. Da sieht Micha natürlich auch nicht ein, das Feld zu räumen. Als die drei Kinder ankommen, erfindet Elli in letzter Not die nächste Lüge: Chrissi wird zur alten Schulfreundin und Micha ihr junger Freund. Doch beim Weihnachtsbraten kommt alles auf den Tisch. Der bleibt den Kindern im Halse stecken. Der Anfang ist gemacht, ab da gibt es kein Halten mehr: Ausgespuckt werden nach und nach auch all ihre Geheimnisse. Aus dem ewigen Musikstudenten Sohn Tobias ist kein Komponist sondern Jingle-Produzierer für Damenbinden geworden, Nesthäkchen Leonie ist ungewollt schwanger, Vater unbekannt und das Autounternehmen von Tochter Susanne und Schwiegersohn Heiner ist insolvent. Letzterer hat sich übrigens bis zu diesem Zeitpunkt sich als großer Schweiger hervorgetan. Als am festlichen Esstisch dann alle Lügen auf den Tisch kommen, bricht sein angestauter Ärger aus ihm heraus und Tobias kommentiert: "Dat kann snacken?"
Mit viel Sinn für Situationskomik, absurde, rührende und auch nachdenkliche Momente hat der Regisseur Murat Yeginer das Erfolgsstück „Alle unter einer Tanne“ des Drehbuchautors Lo Malinke inszeniert. In der plattdeutschen Übersetzung des Ohnsorg-Ensemblemitgliedes Meike Meiners wird daraus das Volkweihnachtsstück für die Bühne am Hauptbahnhof. Neben geschliffenen Dialogen mit viel Zeitgeist und Wortwitz - der Autor ist auch Kabarettist - gibt es auch lebenspraktische Botschaften. Chrissi dreht zum Schluss die Rollen um. Sie wird zur Ellis Therapeutin. Als beide am Ende des in der Katastrophe geendeten Heiligen Festes in der Wohnung zurückbleiben, rät sie ihr zum mutigen Sprung nach vorne. Als schon über Sechzigjährige sei ihr eh der Tod bald gewiss. Was habe sie zu verlieren, wenn sie endlich öffentlich zu ihrer Liebe zu ihrem jungen Freund stehen würde? Der Beifall des Ohnsorg-Publikums ist gesichert: Die Selbstbestimmung der Frau, auch ihrer Sexualität, ist auch hier Konsens.
Birgit Schmalmack vom 7.1.23