Wenn die Schutzzone zur Gefahrenzone wird

Bruchlinien im Monsun Isa Zappe


„Hier ist dein Logenplatz!“ Francoise Hüsges zeigt auf ein Kissen, das auf einer Treppenstufe liegt. Von hier darf ich Zeuge sein, wie aus einer Wohnung ein Live-Filmstudio wird. Die Familienwohnung der Intendantin des Monsuntheaters wird zum Schauplatz ihrer Neu-Inszenierung ihrer Koproduktion mit dem Theater unterm Dach „Bruchlinien“. Das Stück, das letztes Jahr schon in einer Hybridaufführung zwischen Berlin und Hamburg gezeigt wurde, sollte im November eigentlich auf der Baustelle des in der Renovierung befindlichen Monsun Theaters zur Aufführung gelangen. Doch im letzten Moment entschieden die Behörden: keine Aufführungsgenehmigung! Eine andere Bühne musste her. Hüsges geriet ins Nachdenken. Wäre eine Wohnung nicht die beste Bühne für ein Stück, das sich mit dem Missbrauch von Kindern beschäftigt. So ist ihre Wohnung, die sich mit ihrem Mann Martin und ihren zwei Kindern teilt, nun komplett verkabelt und bis auf die Schlafzimmer mit so viel Technik vollgestopft, wie es ein professionelles Filmset erfordert. Sieben Kameras sind installiert, in jedem Raum Scheinwerfer aufgehängt und Bildschirme und Projektionsgeräte platziert. Ein Raum ist zu Technik-Schaltzentrale geworden. Vier Arbeitsplätze sind hier entstanden, von wo aus der Einsatz der sieben Kameras, der Sound das Licht und die Videoprojektionen gesteuert werden. Der Ehemann Martin Hüsges verrät: „Die Corona-Fördertopf für hybride Aufführungsformen machte das möglich. Wir sind mittlerweile gut ausgestattet.“ Da er beim NDR arbeitet, konnte er die Inszenierungen am Monsun Theater mit seinem Fachwissen unterstützen. Während die beiden Schauspieler:innen Melissa Anna Schmidt und Urs Fabian Winiger letzte Stimmübungen machen, den Sitz der Haare und des Mikros überprüfen, eine Songzeile auf dem Klavier spielen und sich Toi-Toi wünschen, treffen die vier Techniker:innen letzte Verabredungen. Martin sagt: „Ich zähl die Zeit runter. Drei Minuten vor Beginn geht ihr vor die Wohnungstür in den Flur.“ Die Nervosität bei den beiden Darsteller:innen steigt. Nur drei Tage hatten sie zum Proben. Erst am Montag sind sie zusammen mit der Regisseurin Johanna Hasse aus Berlin angereist. Drei Tage haben sie geprobt und das Bühnenstück in dem veränderten Setting neu in Szene gesetzt. Dass das Stück von Michael Müller auf der Bühne hervorragend funktioniert, hatten sie bei Aufführungen in Berlin und ihren Gastspielen schon erlebt. Doch würde sich diese Wirkung auch auf das Setting einer Wohnung zwischen Badezimmer, Küche, Wohnzimmer, Balkon und Flur übertragen bzw. sogar noch steigern lassen? In dem damals abstrakten Bühnebild von Francoise Hüsges, das aus von der Decke hängenden Vorhängen aus Rechtecken bestand, die zugleich Raum erschufen aber auch Durchgänge zuließen, war die Metaebene stets Teil des Schauspiels gewesen. Doch in einem häuslichen Rahmen, der mit viel Holz, warmen Farben und persönlichen Gegenständen Geborgenheit vermittelt? Wie würde es hier gelingen, auch die Draufsicht zu vermitteln?
Martin zählt runter: „1:30, 30 Sekunden, 20, 10.“ Das Stück beginnt vor der geschlossenen Wohnungstür. Die Beiden sind aus meinem direkten Blickfeld verschwunden. Doch ich kann sie sehen. Schräg über meinem Logenplatz hat das Team für mich einen Bildschirm aufgehängt. In eine der Kameras sprechend bereiten sie die Zuschauer:innen auf das Kommende vor. Sie seien die Berichterstatter von zwei wahren Fällen, in die sie nun eintreten werden. Damit öffnet sich die Tür und Urs und Melissa legen im Flur ihre Mäntel ab. Behutsam nähern Sie sich ihren Geschichten und schlüpfen in alle darin existierenden Rollen. Sie werden zu dem Mädchen, das über ein Jahrzehnt von ihrem Stiefvater missbraucht wurde, und zu dem Jungen, der von einem Betreuer im örtlichen Eisenbahnverein sexuell genötigt wurde. Zur Mutter, die zuschaute, zu den Tätern, die sich rechtfertigen, zum Staatsanwältin, die rein sachliche Fragen stellt, zur Therapeutin, die bei Aufarbeitung helfen soll. Während sich die Zeitebenen verschneiden, wechseln Urs und Melissa von einem Raum zum nächsten. Wenn das Mädchen vom Wohnzimmer in die Küche hetzt und wieder zurück, um den Bilder der Vergangenheit zu entkommen und dabei überall dem Gesicht ihres Missbrauchers begegnet, das auf die Wände und Jalousien geworfen wird, braucht es keine weiteren Worte. „Du wolltest es doch auch, Dir hat es doch gefallen,“ versucht er ihr einzureden. Wenn die Polizistin den Jungen fragt, ob er sich gewehrt hätte und warum er denn immer wieder in den Verein gegangen wäre, ist der Junge sprachlos. „Sich wehren, wogegen?“ Dann hätte er ja schon damals wissen müssen, dass das Verhalten des Betreuers, den er so verehrte, falsch war. Wie soll das einem Kind möglich sein?
Noch mehr als in der Bühnenversion macht die filmische Inszenierung in einer echten Familienwohnung deutlich, dass die heimische Schutzzone plötzlich genau deswegen zur Gefahrenzone werden kann, weil hier alle Hüllen der Vorsicht fallen gelassen werden. Hier will, soll und darf man sich sicher und beschützt fühlen, hier darf man Vertrauen haben und erfahren. Umso traumatischer ist die Auswirkung für das gesamte Leben eines Kindes, wenn dieses Urvertrauen ausgenutzt und missbraucht wird. Beeindruckend wie präzise die Technik schnurrte, wie flexibel die Schauspieler:innen sekundenschnell die Räume, die Rollen wie die Stimmungen wechselten, wie sie sich von sachlichen Berichterstattern zu betroffenen missbrauchten Kindern verwandelten und deren Nöte gerade in den Close-Ups, die mit der Kamera möglich wurden, nachfühlbar werden ließen.
Zum Schluss verrät mir der Schauspieler Urs: „Erst war es mir nicht recht, dass du da plötzlich im Flur sitzen solltest. Doch im Nachhinein muss ich sagen: Das hat den Flur zu einem Zwischenreich, zum einem Umschaltort gemacht, der dem Stück noch eine weitere Ebene gegeben hat.“ Genau so fühlte ich mich: An einer Nahtstelle zwischen Bühne und Film, zwischen Direktheit und Bildschirm, zwischen Berichterstattung und Realität. Eine beeindruckende Arbeit, die man bis zum 27.11.21 noch miterleben kann. Hier der Link zu den Streaming-Angeboten des Monsun-Theaters:
https://monsun.theater/veranstaltungen/bruchlinien
Birgit Schmalmack vom 5.11.21