Das Gewordensein
Ein riesiger Pappkarton steht auf der Bühne, Doch so sehr die Frauen auch an ihm drücken, schieben oder wackeln, er bleibt verschlossen. Welche Zeitzeugnisse er auch enthalten mag, es bleibt schwierig sie zu entschlüsseln.
Was hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind? Dem spürt Ines Geipel in ihrem autobiographisch angeregten Roman "Umkämpfte Zone" nach. Nun folgt ihr Autor Clemens Mägde und Regisseurin Kathrin Mayr in ihrer Umsetzung des Stoffes auf der neuen Bühne des Monsun Theaters in der Gaußstraße. Sie ist eine moderne hohe schlichte Halle mit zwei Betonsäulen, von der mit schwarzen Vorhängen ein Foyer abgetrennt wurde.
Auf den braunen großen Kasten auf der Bühne werden vor Beginn die geschichtlichen Daten in Schlagworten geworfen. Deren Anfangs- und Endpunkt machen schon die Akzentsetzung von Ines Geipel deutlich. Das erste Datum ist 1920 die Gründung der NSDAP und das letzte 2021 der wiederholte Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. Das korrespondiert mit der Familiengeschichte Geipels. Drei Mal steht die Protagonistin (Vanessa Czapla, Julia Nachtmann und Julia Weden) hier auf der Bühne. Anhand ihrer eigenen Familiengeschichte versucht sie zu verstehen, wie der Hass gerade im Osten im Zuge einer Neo-Naziideologie wieder neuen Auftrieb bekommen konnte. Der eine Großvater, Otto Grunert, machte schnell Karriere in der NSDAP, er wurde nicht nur Blockwart sondern Blockleiter und war maßgeblich an der Ermordung der Juden in Riga beteiligt. Geipels Vater machte später ebenso schnell Karriere in der SED. Denn nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es scheinbar ein großes schwarzes Loch, das jede Vergangenheit in sich aufsaugte. Gerade in Buchenwald sollte ein Denkmal für das bessere Deutschland aufgebaut werden. Setzte man im Westen aus Psychotherapie galt im Osten: Heilung durch Schlaf. Die drei Schauspieler:innen gehen dazu werbend durch die Reihen und versuchen das Angebot der neu errichteten Schlafkammern unter allen von ihrer Vergangenheit Belasteten anzupreisen. Das große Vergessen sollte die große bessere sozialistische Zukunft möglich machen. In den Familien herrschte Schweigen bezüglich des Geschehenen. Das prägte auch die übernächste Generation: So erlebten Ines und ihr Bruder Robby eine Kindheit im Terror und Schweigen. Das konsequente Verleugnen der faschistischen Vergangenheit machte den Aufbau eines antifaschistischen Deutschlands erst möglich und schuf dennoch den Raum für die Entstehung einer dritten Ostgeneration, die das mordende NSU-Trio hervorgebracht hat.
Der direkte Anlass für Geipels geschichtliche Recherche war die Erkrankung ihres geliebten Bruders Robby mit einem unheilbaren Hirntumor. Erst an seinem Krankenbett nimmt sie sich die Zeit in seinen Pappkartons voller Fotos und Materialien mit ihm zusammen die Frage nach dem Gewordenseins zu stellen.
Wie Kathrin Mayr das sehr unaufgeregt, sehr sachlich mit ihren drei hervorragenden Schauspieler:innen auf die Bühne bringt, stellt Fakten klar und erzählt weniger Geschichten als vielmehr Geschichte. Auch wenn Geipels Interpretation dieser sehr klar ist, erlaubt sie einem vorwiegend westdeutschen Publikum kein Wegducken, sondern fördert das Verstehen.
Birgit Schmalmack vom 21.2.22