Zwischen Wahnsinn, Verletzlichkeit und Stärke

Foto: Lauge Sorensen

Konsequent hätte dieses Stück nicht „Hamlet“ sondern Ophelia heißen müssen. Denn obwohl Hamlet ganz zu Beginn seinen berühmten Monolog „To be or not to be“ hält, geht es bei Dada Masilos Bearbeitung des Stoffes eher um das Sein oder Nicht-Sein einer Frau, nämlich um das von Ophelia, die von Masilo selbst auf der Bühne getanzt wird. Ihre Gefühle stehen ganz im Mittelpunkt dieser Inszenierung. Doch zunächst scheint sie nur ein Spielball zu sein. Denn nach einer ersten Liebesszene mit Hamlet wird sie von Polonius und ihrem Bruder brüsk herumgestoßen, die mit dieser Verbindung überhaupt nicht einverstanden sind. Und Hamlet beschäftigen bald andere Fragen als diese neue , die nur noch weitere Schwierigkeiten für ihn bedeuten würde. Denn sein Vater fordert nach seinem plötzlichen Tod Gerechtigkeit. Die sprechenden Schattenbilder auf der Rückwand der Kampnagelhalle zeigen, dass jemand den Vater mit einem vergifteten Wein ermordet haben soll. Und dieser jemand ist niemand anderes als derjenige, der jetzt an der Seite der frischen Witwe erhobenen Hauptes durch den Hofstaat spaziert.

Masilo erzählt in ihrer Choreographie mit wenigen Textauszügen, die von Schauspielern interpretiert werden, und mit vielen expressiven Tanzszenen sehr komprimiert von dem Geschehen der vertrauten Tragödie Shakespeares. Doch sie fügt ihr neue Elemente hinzu: So überträgt sie zum Beispiel die Vergiftungsszene auf ihr ganzes Ensemble. Plötzlich halten alle einen Weinbecher in der Hand, gucken beunruhigt hinein und tauschen ihn schnell mit einem der anderen. Zum Schluss liegen alle ermordet am Boden. Ophelia kommt herein. Ganz nackt ist sie. Völlig ungeschützt präsentiert sie ihren zarten Leib. Nu einen riesigen Blumenstrauß hält sie im Arm, deren einzelne Stiele sie später auf die toten Körper legen wird. Wie entrückt tanzt sie zwischen den Toten umher, wild fliegen ihre Arme durch die Luft, ihr Körper zuckt und windet sich wie eine Schlange. Der Halt ist ihr schon längst verloren gegangen. Sie schlingert durch den Raum, bis sie sich vorne an die Rampe kniet und sich mit einem Wassergel übergießt, das bald ihren Körper überzieht und im verklingenden Licht ihren Selbstmord eindrucksvoll symbolisiert.

Dieser letzte Moment ist der krönende Abschluss einer Inszenierung, die weniger auf Intellekt als vielmehr auf Gefühl setzt. Alle Personen dürfen diese zeigen. Sie sind damit weniger in ihre Rollen eingezwängt, als das sonst im Ballett üblich ist. Die Tänzer:innen sind zugleich gefühlsvolle Darsteller:innen, die mit Gelächter, Rufen, Schnalzen und Schreien ihren Emotionen Ausdruck verleihen dürfen. Sie sind einfach Menschen, die in dieser Tragödie geworfen sind und mitfühlen dürfen. Dadurch rückt dieses Drama auch an die Zuschauer:innen sehr nah heran.

Diese Frau, die hier im Mittelpunkt steht, ist eine, die zugleich Verletzlichkeit, Zartheit, Wahnsinn aber auch Stärke ausdrückt. Sie steht zu ihren Gefühlen und hat die Kraft sich ihnen ganz hinzugeben. Ganz ohne Schutzpanzer, der sonst in der Gesellschaft üblich ist. Dass dazu ein großer Mut erforderlich ist, macht Masilo mit ihrer Arbeit deutlich. Sie selbst wagt mit dieser Interpretation mehr als in dem Rest der Arbeit. Die Ensembleszenen illustrieren die Handlung in verständlicher Übersetzung in Bewegung und Spiel, wagen aber tänzerisch weniger Neues.

Ganz im Gegensatz zur Musik. Der Live-Soundtrack der vier Musiker:innen ist grandios. Wie der Geiger und der Percussionist, der aber auch einen Gartenschlauch singen lassen kann, und die zwei Sängerinnen einfühlsam das Geschehen auf der Bühne begleiten und vorantreiben, ist wunderschön und innovativ zugleich. Erwähnenswert ist allerdings außerdem noch, wie divers Masilo ihr Ensemble zusammengestellt hat. Bei den Tänzer:innen sind vielfältige Körperformen zu sehen, von denen leider viele für eine europäische Produktion schon im Vorfeld aussortiert worden wären. Toll welche Talente hier dadurch auf der Bühne zu erleben waren. Ein eingängiger, kurzweiliger und gefühlsreicher Abend, von dem das Bild der ertrinkenden Ophelia am längsten haften bleibt.

Birgit Schmalmack vom 30.9.24