Seite eins

Ingolf Lück by Voler Zimmermann


Volkes Stimme spricht

Gegen den Minderheitenterror aller Gutmenschen dieser Welt ziehen noch ein paar wenige Aufrechte ins Feld. Marco ist einer von ihnen. Als Stimme des Volkes spricht er die Mehrheitsmeinung aus, die das Meinungskartell der zwar seriösen, aber bevormundenden Journalisten ansonsten verschweigen. Der Boulevardjournalist spricht die Wahrheiten aus, die jeder braucht um sich seine Meinung bestätigen zu lassen. So bekommt das Volk, was es braucht, fühlt sich verstanden und belohnt die Zeitung mit den großen Überschriften und bunten Bildern mit treuer Kaufkraft. Marco ist einer, der seine Verantwortung so ernst nimmt, dass er, wo es keine Geschichte gibt, kurzerhand die erfindet, die gut auf Seite eins passt.
Minutenlang steht er zu Beginn auf der Bühne, tippt auf seinem Smartphone herum ohne den Blick zu heben. Was halten Sie von mir?, fragt er die Zuschauer. Sympathisch ist wohl kaum das Attribut, das den Zuschauern zu ihm einfallen würde, eher arrogant und überheblich. Sollte auf diesen Marco die junge unschuldige Songwriterin, die mit ihrem Anruf bei Marco eigentlich nur ihre Platte promoten will, tatsächlich reinfallen können? Zu keinem Zeitpunkt spielt Ingolf Lück Marco so, dass man ihm seine Verantwortungsgerede abnehmen könnte. Somit ist die Fallhöhe im Stück nicht so hoch wie sie sein könnte. Doch Spannung kommt dennoch in den scheinbar vorhersehbaren Verlauf des Stückes: Der Trick, mit dem er Lea auf Seite eins bringt, scheint nicht nur sie sondern auch den großen Macher in Schwierigkeiten zu bringen.
Das Stück hält dem Zuschauer geschickt den Spiegel vor. Der Autor Johannes Kram kennt das Medien-Geschäft aus eigener Erfahrung, lässt hinter die Kulissen blicken und raubt dem Zuschauer die letzten Illusionen. Somit ist das Stück unter der Regie von Christian Schäfer letztendlich auch selbst eine Bstätigung der Meinung des Gutbürgertums: Boulevardjournalismus ist durch und durch unmoralisch. Doch bleibt die Frage: Wer sind dann seine Millionen Leser? Ein paar von ihnen dürften auch an diesem Abend den Weg in die Kammerspiele gefunden haben. Die anderen dürfen sich beruhigt und in ihrem Weltbild bestärkt auf dem Heimweg machen.
Birgit Schmalmack vom 26.3.15