Wir müssen uns ändern



Die Welt brennt. Es ist ernst. Deswegen beschließt Sie, die hier im schwarzen engen Samtkleid mit Highheels vor dem Publikum steht: Ich muss mich ändern. Sie hat genügend Erfahrung mit dem Verändern. "Ich habe mindestens zwanzig Leben gelebt." Als schüchterner dänischer Junge wurde Sie geboren, fand den Weg auf die Bühne, hatte Erfolg, inszenierte dann den eigenen Tod, ließ sich in der Erde begraben, um aus einer Klosterzelle als Frau wieder zurückzukehren. Genügend Erfahrungen also mit der Veränderung. Doch jetzt braucht es mehr. So kann es nicht weitergehen. Ein Ich das sich ändert, reicht nicht mehr. Es braucht ein Wir. Also beginnt die Frau in dem schwarzen Samtkleid, ihr Gegenüber im Thalia in der Gaußstraße einzuschwören auf eine neue gemeinsame Bewegung. Sie spricht die Eidesformeln vor und die Zuschauer:innen sprechen sie mit. Noch etwas ungewiss, auf was sie sich hier einlassen sollen. Die Stimmen werden weniger, als es zum Schluss heißt, dass sie sich bis an ihr Lebensende an die gemeinsam beschlossenen Regeln halten werden. Nie mehr Fleisch essen? Nie mehr fliegen? Nur Lebensmittel aus dem Umland essen? Doch Madame Nielsen ist es ernst. Dazu benutzt sie die tiefsten Emotionen, die sie bei sich selbst festgestellt hat: Die Liebe zu den eigenen Kindern. Sie ruft: Nennt mir die Namen eurer Kinder, die gerettet werden müssen. Mit der Kreide in der Hand schreibt sie sie an die schwarze Rückwand der Bühne. Ein letzter Name noch! Maria, schreibt sie. Noch ein weiterer wird gerufen: Justus. Als sie schon ansetzen will, ihn auch noch dazu zu schreiben, bricht die Kreide und fällt ihr aus der Hand. Sie will schon wieder nach vorne ans Mikro gehen, da ruft sie: Nein, das geht nicht, Justus muss mit! Im anschließendem Publikumsgespräch sagt der Vater, der den Name Justus rief, dass er wirklich das Gefühl gehabt hätte, dass sein Junge sonst hätte untergehen müssen.
Während dieser hinführende Teil des Abends ganz direkt an die Gefühle der Eltern im Zuschauerraum geht, zeigt der zweite Teil die Konsequenzen und Risiken dieser Veränderung auf. Dann wird auch klar, warum Nielsen ihren Abend eine feministisch-öko-faschistische Show nennt. Denn um eine solche Weltstaat-Bewegung zu erzeugen, in dem sich alle über die Regeln einig sein müssen, damit sie wirken, ist die Meinungsvielfalt naturgemäß nicht erwünscht. Was macht man mit den Abweichlern, die immer noch zu Schweinske gehen wollen? Vergiften? Es werde Opfer geben müssen, davon ist Madame Nielsen überzeugt. Oder braucht es eher eine neue Martyrerfigur, die bereit ist sich für die Veränderung zu opfern? Madame Nielsen stellt sich zur Verfügung. Sie verbrennt sich auf den Stufen des Parlaments, um den Beginn der neuen Weltstaates einzuleiten.
Dieser Abend könnte pathetisch wirken, doch Madame Nielsen schafft es zusammen mit ihrem Regisseur Christian Lollike ihn in der Schwebe zu halten. Das gelingt nicht zuletzt durch die Rahmung ihrer Performance durch das Halvcirkel String Quartett aus vier Frauen mit weißen Pagenköpfen und Albino-Schminke, die eine Symphonie von Ligeti spielen, in die sich die Songs von Madame Nielsen perfekt einfügen. Dass hier tatsächlich alles ganz ernst gemeint sein soll, mag man kaum glauben. Doch das Zeitalter der horizontalen Ironie sei zu Ende. jetzt ginge es um das Vertikale, das in die tiefere Schichten des Menschseins führe.
Birgit Schmalmack vom 31.1.22




Die WElterlöserin Foto: Emilie Therese

Zur Kritik von

Faz  
 
 



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Der Tod in Venedig, Thalia
sokak, Thalia