sokak oder die kunst darin straßenkatzen nicht auf

Sodak, Thalia O-Young Kwon



Die Gehirngespenster spazieren führen

Diese Gespenster im Gehirn sind ganz schön umtriebige Geisterwesen. Sie werden sowohl von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft auf Trab gehalten. Und lassen den Menschen, die sie in ihrem Kopf beherbergen, keine Ruhe. So sind die Vier, die eine Schar Zuschauer:innen hinter sich herziehen, suchend nach einem Ort des Ankommens unterwegs in den engen Straßen Ottensens. Kaum haben sie kurz Rast gemacht in einem ihrer Hinterhöfe, auf einem ihrer Plätze, geht es schon wieder weiter. Kurz vor Schluss scheinen sie einen Unterschlupf gefunden zu haben. Ein Tor in einem der Hinterhöfe wird aufgerollt, der Blick in einen Vintagestore voller alter Gegenstände ist zu sehen. Mit nacktem Oberkörper sitzt einer der Performer im kalten Wind auf dem Boden. Eilig sucht die Performerin ein paar Kleidungsstücke zusammen, stopft sie in einen Koffer, während sie sich welche davon überstreift. In ihr kleines Köfferchen legt sie dagegen nur zwei kleine Büchlein. Dann geht es auch schon weiter. Hektisch laufen, tanzen und springen die vier die letzten Straßen hinunter, bis sie wieder am Ausgangspunkt angekommen sind und das Stück von vorne zu beginnen scheint. Die Anfangsszene ist erneut zu hören. Das Neuanfangen, das Einfinden, die Unsicherheit, das Suchen scheint kein Ende zu nehmen und in eine ewige Schleife zu münden.
Forschen sie wirklich Murats Geschichte nach, der hier einen Kiosk besitzt und aus dem Zigarettenautomat Liebe ziehen kann, oder doch ihrer eigenen Geschichte nach? Dabei erzählen sie sich am liebsten Geschichten in Sprachen, die sie nicht verstehen und bekommen auch am liebsten solche erzählt, Denn das macht ihnen klar: Nicht nur sie sind hier neu und kommen mit einer anderen Sprache und Kultur im Gepäck. Denn sie schleppen alle einen Koffer mit sich herum. Manchmal mit irgendwelchen Klamotten vorllgestopft, manchmal nur mit eineigen Notizbüchern. Einer von ihnen ist gänzlich stumm. und doch immer präsent. Wie ein stummes Frage- oder Ausrufezeichen steht der schwarze Mann mit Anzug, Hut, dem Lederkoffer und Regenschirm in Hauseingängen, an Ampel und hinter Mauervorsprüngen. Ich bin ein Ausländer, wie du ein Ausländer bist. Auf der Suche nach ihrem Platz, nach ihrem Murathausen, nach ihrer Muratstraße, nach ihrem Muratplatz spüren sie dem Gefühl des Neuankommens, des Fremdseins, des Neuseins, des Anfangens nach. Da ist ein Abwarten, eine Innehalten, aber auch ein Erobern, ein Erforschen, ein Kennenlernen und ein Tatendrang. Zusammen mit ihren Zuschauern und Zuhörern, die mit Kopfhörern auf den Ohren ihnen interessiert lauschend folgen. Doch es macht nicht nur Spaß ihren Sätzen zu lauschen, die kunstvoll die deutsche Sprache umschlingen und zu neuer Blütenpracht treiben, sondern auch ihre kleine Inszenierungen während des Tanzens, Laufen und Gehens zu entdecken. Zusammen mit der Regisseurin Sophie Pahlke Luz haben sie einen Spaziergang durch Ottensen in Szene gesetzt, der prallvoll mit Geschichten, Gedanken, Stimmungen, Bilder, Straßenszenen und Entdeckungen ist. Weil das Schauspielerteam (Nail Doǧan, Solomia Kushnir, Shahin Shekho) so grandios spielfreudig ist und der Text von Nail Doǧan der deutschen Sprache ganz neue Satzgewächse entlockt, wollte der Applaus am Schluss trotz des ungemütlichen Januarwetters kaum ein Ende nehmen, als alle wieder am Thalia in der Gaußstraße angekommen waren.

Birgit Schmalmack vom 27.1.22