Nur kein Opfer sein


Ein Opfer will Hazal auf keinen Fall sein. Doch als sie beim Klauen kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag erwischt wird, macht sie sich vor dem Ladendetektiv so klein, dass sie sich vor sich selbst ekelt. Nur um ihre Geburtstagsparty nicht zu gefährden. Sie nimmt die Erniedrigung in Kauf, denn ihre Eltern sollen auf keinen Fall von dem Diebstahl erfahren. Doch sie weiß: Scham ist eine beschisseneres Gefühl als Angst. Als sie dann mit ihren Freundinnen an ihrem Geburtstag vor dem Club vom Türsteher abgewiesen wird, obwohl sie sich stundenlang aufgebrezelt haben, steigt eine Wut in ihr hoch, die sie von innen aufzufressen droht. Denn sie ist nicht nur wütend auf die Türsteher sondern auch auf ihre Eltern, die ihr alles verweigern, was den anderen Mädchen erlaubt ist. Sie ist wütend auf die deutschen Mitschülerinnen, die scheinbar so viel bessere Möglichkeiten geboten bekommen und dies nicht einmal ahnen. Sie ist wütend auf alle um sie herum, die alles zu bekommen scheinen, das ihr wohl für immer verweigert bleiben wird. Sie ist wütend auf dieses System, das sie aussortiert. Sie ist wütend auf ihre Beschränkungen durch die türkische und die deutsche Umgebung, die ihr Leben zu einem Gefängnis machen, wo sie sich doch so sehr nach Freiheit sehnt.
Hazal gibt es in der Inszenierung von gleich dreimal. Die drei Schauspielerinnen (Sümeyra Yilmaz Tala Al-Deen, Vassilissa Reznikoff) schlüpfen nicht nur in ihre Rolle sondern auch in die ihrer beiden Freundinnen Gül und Emra. Vor der Häuschenreihe mit den größtenteils heruntergelassenen Rollläden, die eher an Mannheim als an Berlin erinnern, erzählen sie von ihrer Lebensgier, die hart auf die Wirklichkeit aufprallt, die ihnen überall geschlossene Türen in den Weg stellt. Als die große Wut, die Hazals Haut schier zum Platzen zu bringen droht, ein Ventil sucht, finden die drei jungen Frauen es in Gestalt eines Studenten mit runder Metallbrille und Jutesack, dem sie in der U-Bahn begegnen. Als sie mit ihm in der nächtlichen Station zusammenprallen, prügeln und schubsen sie ihn so lange, bis er auf die Bahngleise fällt. Während die drei ansonsten gerne einen „auf dicke Eier“ machen, erzählen sie diesen Part ihres Abends völlig sachlich und unaufgeregt. Im Gegenlicht stehen sie auf der Bühne und berichten vom Hergang ihrer Tat. Mehr braucht es nicht. Der Schock sitzt. Hazal wollte so sehr kein Opfer sein, dass sie zur Täterin wurde.
Selen Karas Inszenierung versucht die Geschichte dieser jungen Frau, die so verzweifelt ihren Platz sucht, sehr stark von der Handlungsebene her zu erzählen. Lebendig, prall, bunt und mit viel Lokalkolorit angehaucht, wird einem deutschen Theaterpublikum die Wirklichkeit dieser Berliner Mädchenwelt näher gebracht. Klischees werden lustvoll bedient. Da gibt es den Taxi fahrenden Vater, der Erdogan verehrt, da den russischen Drogendealer, den immer nur die Türken beklauen, da Hazals kleinkriminellen jüngeren Bruder Unur, den sie um Geld anpumpt, und schließlich ihre Chatliebe Mehmet, der wegen seiner zahlreichen Vergehen nach Istanbul abgeschoben worden ist und für Hazal zu einem Sehnsuchtsanker wird. Natürlich wird auch er nicht das halten, was er ihr jeden Abend im Chat versprochen hat. Selen Kara lässt die Handlung für sich sprechen. Reflektierende Psychologisierungen sucht man bei ihr vergeblich. Hazal ist eine junge Frau, von der man schon alles zu kennen glaubt, wenn sie die ersten Worte spricht, und die dennoch immer wieder überrascht. Kara erlaubt bei ihrer Umsetzung den Zuschauer:innen beides: Entweder an der Oberfläche zu bleiben oder bei ihrem Blick auf Hazal selbst in tiefere Verständnisebenen vorzudringen.
Birgit Schmalmack vom 11.11.21