Wie soll man leben?



"Du erwartest eigentlich von mir, dass ich dir sagen soll, wie man lebt", sagt Harper Reagan kurz vor Schluss zu ihrer Tochter. Doch diese Regeln kann Harper nicht geben. "Keine Ahnung, wie das Leben funktioniert."
Harper Reagan (Annika Mauer), eine Frau Anfang vierzig, hat innerhalb einer Woche alle ihre Grundfesten gnadenlos in Frage gestellt. Eigentlich hat sie eine Familie, die sie mag. Eine intelligente Tochter (Linda Stockfleth) kurz vor ihrem Schulabschluss, einen Mann (Christian Nickel), den sie liebt, einen Job in dem sie anerkannt ist und gutes Geld verdient. Doch als sie erfährt, dass ihr Vater, den sie zwei Jahre nicht gesehen hat, im Sterben liegt und sie von ihrem Chef (Stephan Benson ) keinen Tag frei bekommt, bricht sie einfach aus. Sie fährt trotz der drohenden Kündigung los, ohne ihrer Familie Beschied zu sagen. Doch sie kommt zu spät, ihr Vater ist schon gestorben. Ihre Mutter eröffnet ihr Details über ihren Vater, die ihr Bild von ihm zerstören. Sie bricht alle bisherigen Regeln. Sie verletzt spontan einen Mann, den sie in einer Bar getroffen hat, sie geht mit einem Fremden ins Bett und fährt noch vor der Beerdigung wieder zurück. Mittlerweile ist sie sich auch nicht mehr so sicher, dass ihr Mann unschuldig ist. Er wurde der Kinderpornographie verdächtigt, verlor seinen Job und der Umzug von Manchester nach London wurde fällig. Seitdem ist das Familieneinkommen von Harper abhängig. Eine Frau setzt alles auf eine Karte, sie stellt sich den Unsicherheiten des Lebens, mit vollem Bewusstsein und verliert scheinbar alles. Nur eine Ahnung von Wahrheit bekommt sie im Gegenzug. Oder eigentlich nicht einmal die, denn was ist schon gewiss?
Harper bleibt. Sie bleibt bei ihrem Mann, doch unter der Prämisse der Wahrheit. Denn: "Wir lügen schon viel zu oft in unserem Leben."
Das Schlussbild ist ein idyllisches: Die Familie sitzt an einem sonnigen Sonntagmorgen zusammen auf der bunten Picknickdecke beim Frühstück. Der Tisch auf dem Boden reich gedeckt mit den wunderschönsten Früchten, die auf die Rückwand geworfen werden. Ein Traum? Der Ehemann erzählt von seinem Wunsch für die Zukunft: Er will auf dem Lande leben, mit seiner Frau, die erwachsenen Tochter kommt sie besuchen und sie frühstücken zusammen im Garten.
Darf man träumen und an dem Bild seiner Wunschvorstellung festhalten, wenn alles in Frage gestellt wird? Harpers Schlussfolgerung ist: Man muss, um weiter zu leben. Denn das Leben ist kein Traum sondern die Konfrontation mit der oft unliebsamen Realität. Der Mensch ist weder gut noch böse, sondern zu allem fähig. Diese schwere Lektion bereitet sich Harper selbst. Sie verschließt nicht mehr die Augen sondern stellt sich dieser Herausforderung. Natürlich hat der Autor Simon Stephens wieder einmal ein Drama geschrieben, in dem nach klassischem Vorbild die Katharsis auf die Spitze getrieben wird. Im Ernst Deutsch Theater wird es dank der hervorragenden Hauptdarstellerin, dem tollen Ensemble und der sensiblen Regie von Antoine Uitdehaag ohne jede Effekte wunderbar auf den Punkt inszeniert. Ein toller Abend, der den Besuch im Ernst Deutsch Theater lohnt.
Birgit Schmalmack vom 1.2.22




Harper REagan, EDT Copyright Oliver Fantitsch


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Träum weiter, Ernst Deutsch Theater
Gespenster, EDT