Jeder Mensch ist ein Abgrund
Wie ein offenes Rasiermesser liefe Woyzeck durch die Welt, immer so gehetzt, wirft ihm sein Leutnant vor. Kein Wunder, Woyzeck gehört zu den armen Leuten, die sich keine Muße und keine Moral leisten können. Nach seinen Aufgaben als Soldat, zu denen auch Dienstleistungen für seinen Vorgesetzten gehören, läuft er zu seinem Nebenjob bei dem Herrn Doktor. Dafür dass dieser an ihm medizinische Experimente durchführt, bekommt er das zusätzliche Geld, das er dringend benötigt, um seine Frau Marie und den kleinen Sohn zu ernähren. Und dennoch ist es nie genug. So rast Woyzeck in seiner zwei mal zwei Meter großen Gefängniszelle im Kreis herum. Von einer Stelle seines Lebens zur nächsten. Oft drückt er sich die Ohren zu oder hält sich den Kopf. Ob es an dem Schlafentzug, den Experimenten des Doktor, den Erniedrigungen seines Leutnants oder an den Vorwürfen seiner Frau liegt, weiß er nicht. Doch er hört immer wieder Stimmen in seinem Kopf.
So hat Regisseur Björn Kruse seine Bühneinterpretation des Büchner-Fragments Woyzeck konsequent als Einpersonenstück auf die Bühne gebracht. Alle Personen spielt Jascha Schütz als Solo. Mit ein wenig verstellter Stimme springt von einer Rolle in die nächste. So zeigt Kruse weniger die Entwicklung von dem aufrechten einfachen Menschen zum verwirrten Mörder sondern vielmehr den von Beginn an mit sich und der Umwelt kämpfenden Woyzeck, wie er nach all diesen Zumutungen des Lebens geworden ist.
So ist die letzte Szene zugleich die erste. Woyzeck kniet auf dem Boden, sein Oberkörper liegt auf dem Hocker, der Kopf ist vorgestreckt. Gleich wird es fallen, das Fallbeil für den zum Tode Verurteilten. Kruse erklärt aus dem zerrütteten Zustands des Mannes, wie er zu dem geworden ist, was hier hinter den Gitterstäben so klapperig und gebeugt mit wirren Haaren und dunklen Augenringen vor den Zuschauern herumtigert. Nur angerissen werden die einzelnen Einflussgrößen für den zuvor stattgefundenen Entwicklungsprozess. Eine wahnsinnige Herausforderung für den Schauspieler. In Sekundenschnelle muss er nicht nur die Rollen sondern auch die Gefühlszustände und Situationen wechseln. Jascha Schütz meistert sie mit Bravour. Jede Gestik, jede Mimik, jede Stimmlage und jede Bewegung sitzt und vermittelt punktgenau die jeweilige Stimmungslage. Selten wurde der Text Woyzeck so auf seine wesentlichen Aussagen konzentriert. Wie abgenagt von allem Beiwerk wurde er auf seine Kernaussage verschärft: Jeder Mensch ist ein Abgrund und er kann zu einem offenen Rasiermesser werden, wenn ihm seine Menschenwürde genommen wird.
Birgit Schmalmack vom 25.3.22