Im Schattenreich der Erinnerung
Wie schreibt man einen Lebenslauf? Nur die nackten Daten des eigenen Werdeganges zu notieren, kommt Saša (Sebastian Zimmler) wenig sinnvoll vor. Natürlich ahnt er, dass die Ausländerbehörde, die vom ihm dieses Schriftstück einfordert, nur genau dies interessiert. Aber dennoch gerät er ins Nachdenken darüber, was ihn eigentlich ausmacht. Vielleicht die Liste aller Dinge, die er mal besessen hat? Eine schöne Kindheit, einen beschaulichen Heimatort, die Mitgliedschaft in einem Fußballverein, zwei Wellensittiche, sein Geburtsland Jugoslawien und die enge Beziehung zu seiner Oma? Gerade der Verlust des letzten Punktes schmerzt ihn sehr. Denn diese Beziehung schwindet gerade, weil seine Großmutter (Lisa Hagmeister) nach und nach ihr Gedächtnis verliert.
So sitzen diese Beiden zu Beginn der Inszenierung von Sebastian Nübling des Romans „Herkunft“ auf der völlig schwarzen Bühne, die eine in einem schwarzen mit einer Fernbedienung gesteuerten Lehnsessel und der eine auf einer schwarzen Waschmaschine und versuchen miteinander zu kommunizieren. Genau diese vergeblichen Dialoge, die das Buch von Saša Stanišić durchziehen, sind auch die Ankerpunkte in dem Stück auf der Bühne des Thalia in der Gaußstraße. Alles andere scheint sich einem direkten Zugriff zu entziehen. Alle Gegenstände auf der Bühne sind schwarz. Selbst der Fußball, mit dem Saša dribbelt, ist schwarz eingefärbt. Das einzig Bunte sind die Menschen auf der Bühne. Sie bringen die Lebendigkeit in das neue Leben von Saša, das nun in Deutschland stattfinden soll. Alles andere verschwindet im Schattenreich der Vergangenheit. Wenn da nicht die Musik wäre, die Vernessa Berbo als eine der vier Darsteller:innen einstreut. Die stimmungsvollen Volkslieder sind es, die dieser Inszenierung die Basis geben, die etwas emotionalen Halt geben kann. Denn so grandios die Schauspieler:innen auch ihre Rollen verkörpern, (allen voran Lisa Hagmeister als zerbrechliche, tatterige und aufmüpfige Oma) „Herkunft“ ist in dieser Umsetzung ein wahrhaft düsteres Stück. Das durchweg schwarze Bühnenbild erweist sich als so wirkmächtig, dass neben ihm nur noch die Musik als die Atmosphäre beeinflussendes Mittel bestehen kann. So wird die Botschaft klar: Der neue Leben nach der Flucht muss sich mühsam einen Platz erobern in einem Schattenreich der Erinnerungen.
Birgit Schmalmack vom 17.12.21