Doppelbödiger Spaß



Den etwas älteren unter den Zuschauerinnen dürften diese Geschichten aus dem Reich der schwarzen Pädagogik wohl noch aus der eigenen Kindheit bekannt sein. Ob das Mädchen mit den Zündhölzern, der Zappelphilipp, Suppenkaspar oder Hanns Guck-in-die-Luft. Alle sind schauerlich und enden mit drastischen Strafen für die Kinder, die absolut nicht brav sein wollen und sich gegen die Regeln der Erwachsenen auflehnen wollen. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann drehen nach dem Ansatz der Tiger Lillies den Spieß einfach um: Bei ihnen sind die Kinder die Revoluzzer, die sich bewusst gegen die ungerechte Erziehung ihrer Eltern auflehnen und in einer anarchischen Kinderkommune leben. Doch das ist keineswegs ein idyllisches Plätzchen der kindlichen Lebensfreude. Ganz im Gegenteil: Diese Kinder sind von ihren bisherigen Erfahrungen schwer traumatisiert und damit fast gänzlich unfähig zur Aufnahme von positiven Beziehungen. Die Muster, die sie in ihren frühen Jahren vorgeführt bekamen und erdulden mussten, wirken nach. Sie können sich von ihnen nicht befreien. So wenden sie das Gelernte auf ihr direktes Gegenüber an. Und das sind ihre ebenfalls gebeutelten kindlichen Mitbewohner. Auch ohne einen Chef kommen sie nicht aus. Derjenige unter ihnen, der als einziger lesen kann, wird zu ihrem Anführer. Da er auch im Besitz eines Buches ist, hat er kurzerhand den Titelfigur zu ihrem Gott, zu ihrem Vorbild, zu ihrem Helden erklärt. Er ist ausgerechnet „Struwwelpeter“. Als dieser zum Schluss von den anderen Kindern entzaubert wird, erkennen sie auch, dass ihr Kommunardengefängnis, in das sie sich vor der Welt zurückgezogen haben, eine Tür besitzt und gehen eine nach dem anderen hinaus.
In ihren fünf sauber voneinander getrennten Stockbetten-Arealen liegen, tanzen zittern, toben, singen und wüten die fünf Kinder. Das Stück lebt von den tollen Songs, die hintergründig von den Tiger Lillies komponiert worden sind, von den krakeligen Bühnenzeichnungen, die zu jeder Geschichte auf der schwarzen Bühnenrückwand erscheinen, aber hauptsächlich von den tollen Interpret:innen (Julian Greis, Merlin Sandmeyer, Cornelia Schirner, Catherine Seifert und Victoria Trauttmansdorff) auf der Bühne. Sie geben der fragwürdigen Originalvorlage eine solche Doppelbödigkeit, Wildheit, Aufmüpfigkeit und Traurigkeit, dass der Abend an Tiefe gewinnt. Sie schaffen es, dass er gekonnt zwischen Satire, Tragik und Spaß changiert.

Birgit Schmalmack vom 6.11.21






Shockheaded Peter, Thalia Foto: Fabian Hammerl


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Blick von der Brücke, Thalia
Pieces of a woman, Thalia