Die Kunst der Transformation



Das "O" sei ihr bei der Ankunft in Hamburg abhanden gekommen. Nun heißt sie nur noch "Lena". Doch als ihr Enkel in einem Anflug von Lebensmüdigkeit von der Überseebrücke in die Elbe springt, dabei in einem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod seiner verstorbenen Oma begegnet und von ihr ein Amulett in Form eines "O"s findet, ist scheinbar alles wieder vollständig. Ihr Enkel hat eine Aufgabe für sich gefunden und Lenas Name ist wieder komplett. Jetzt kann seine Oma, die in den Jahren zuvor verzweifelte Anträge bei den Hamburger Ämtern gestellt hatte, dass ihre Schaupielerinnenseele in einen neuen Körper einziehen könnte, endlich einen Platz zum Weiterleben finden. Dass dieses O, wie sich später herausstellt, eigentlich nur ein Penisring ist, den der Enkel zufällig auf dem Elbgrund gefunden hat, spielt dabei schon fast gar keine Rolle. Denn die Ereignisse und damit einhergehenden Veränderungen überschlagen sich eh.

Zeitgleich plant die Enkelin von Lena eine Ausstellung zu Ehren ihrer Oma und sucht dafür eine Schauspielerin, die sie spielen könnte. Da in Hamburg immer Schauspieler:innen keine Arbeit bekommen und in ihrer Ausweglosigkeit von der Überseebrücke springen, sei dies ein guter Ort zur Rekrutierung, verrät ihr ihr Freund. Tatsächlich ist hier viel los. Nur einen Tag nach dem Selbstmordversuch ihres Bruders, bereitet sich dort eine Schauspielerin mit ihrem letzten Monolog auf ihren Selbstmord vor. Sie wird engagiert und verzichtet auf den Sprung. Fühlte sie sich doch bisher immer im verkehrten Körper, so darf sie jetzt ihr Idol, die ukrainische Schauspielerin Lena verkörpern. Wie groß ist erst ihr Glück, als sie in der Ausstellung die bildende Künstlerin trifft, deren Spezialgebiet es ist, menschliche Körperteile zu zerkauen und aus ihnen neue Körper zu formen. Jetzt kann die Verwandlung vollendet werden.

Der aus Charkiw geflohene ukrainische Regisseur und Autor Oleksandr Seredin hat hier mit einem ukrainischen Ensemble (Uliana Fedak, Alona Konovalchuk, Arina Kolesnychenko, Oleksandr Koval, Gregory Popov) mit der Unterstützung von ART CONNECTS ein Stück entwickelt, das jetzt im Lichthof seine Premiere feierte. Per Zoom geprobt und in einer Woche in Hamburg zusammen auf die Bühne gestellt, ist es ein anspruchsvolles und eindrückliches Zeichen für den unbedingten Glaube an Kunst und Transformation geworden. Der sprachgewaltige Text von Seredin, der Metaebenen in fast jedem Satz aufspannte, stellte hohe Anforderungen an die nicht auf Deutsch ausgebildeten Schauspieler:innen. Hier stehen Profis auf der Bühne, das ist dennoch zu spüren. Der schnelle, von Andeutungen überbordenden Text wurde in einem rasanten Szenenwechsel vorgetragen, der von dem unbedingten Willen der Mitwirkenden, auf der Bühne zu stehen, zu spielen und sich in der Sprache des deutschsprachigen Publikums mitzuteilen, zeugte.

Wenn selbst einen Serebrennikov wie zuletzt im Thalia Theater im Wij die Bilder für die Schrecknisse der Gegenwart ausgehen, ist es umso bemerkenswerter, wenn hier am Lichthof ein junges engagiertes Team einen Metablick auf Zerstörung und Transformation wagt und dennoch die Abgründe nie verleugnet. Denn zum Schluss stehen sie alle auf ihren Ausstellungspodesten. Sie sind tot und zu Kunstobjekten geworden. Pralles Theater, das erst einmal zerkaut und verdaut werden muss.

Birgit Schmalmack vom 25.5.24




Ich bin Lena, Lichthof ©-Alona-Konovalchuk


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Das andere Sprechen, Lichthof
Johann Holtrop, Kampnagel