Jeder für sich allein



Es sind dreißig Menschen heute morgen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, die in einer Amtsbestattung beerdigt werden. Hamburg hat sich entschieden, jeden in der Stadt Verstorbenen mit einer kleinen Feier zu bestatten, auch wenn er keine Angehörigen hat. Davon berichtet die Pastorin. Doch nicht nur sie kommt zu Wort. Auch ein Polizist, der Wohnungen aufbrechen muss, in denen der Verdacht besteht, dass dort ein verstorbener Mensch liegt. Ein Palliativpfleger, der versucht, Menschen ein würdiges Ende zu ermöglichen. Eine Nachbarin, die selbst erlebt hat, dass ein Nachbar unbemerkt in seiner Wohnung verstorben war. Eine Telefonseelsorgerin, die die Nöte einsamer Menschen schildert. Eine Tochter, die im Nachhinein erfuhr, dass ihr Vater in einer Amtsbestattung beerdigt wurde.

Ist es ihr Vater, der, während wir als Zuschauer:innen einzeln verstreut mit unseren Kopfhörern auf unseren Ohren im Raum sitzen, derweil auf der Bühne still seinen täglichen Verrichtungen nachgeht? Während wir den Geräuschen und den Interviews lauschen, sehen wir ihm zu. Wie er sich wäscht, wie er Kaffee kocht, wie er seine Medikamente nimmt, wie er schnitzt, wie er Origami-Friedenstauben faltet, wie er liest, wie er Dias von früheren Tagen anschaut. Wir kommen ihm dabei sehr nahe, obwohl wir weit weg sind: An allen Tischen, an denen er seinen Verrichtungen nachgeht, sind Mikrophone aufgebaut, die uns seine Geräusche sehr nahe bringen. Dennoch bleibt die Distanz zwischen ihm und uns. Denn wir sitzen alleine weit verteilt im großen weißen hohen Raum der Freien Akademie der Künste. In ihm wurde vom Atelier Lanika (Anika Marquardt und Lani Tran-Duc) eine wunderschön ästhetische Installation der Vereinzelung aufgebaut. Auf einem flauschigen abdämpfenden Teppich aus Stoffflocken stehen einzelne Holztische, an denen Sammlungen, Bastelstationen oder Gegenstände für Alltagstätigkeiten zu sehen sind. Dazwischen stehen einzelne Holzhocker und Stühle für das Publikum. Von der Decke hängt ein grünes Gespinst aus Paketbändern. Dazu ist ein Soundtrack aus Gesprächen, softer Musik und Geräuschen zu hören. Baumrauschen und Vogelzwitschern ebenso wie das metallische Klacken eines Briefkastenschlitzes, Kinderlachen aus dem Hof, Stimmen aus dem Fernseher und das Knistern beim Umschlagen einer Zeitung. An einzelnen Stationen kommt auch der einsame Mann (Günter Schaupp) zu Wort: Doch nicht etwa mit seiner Lebensgeschichte sondern mit philosophischen und anekdotischen Betrachtungen über den Tod. So trägt er vor, dass der Tod zwar ein allgemeines Phänomen, aber für jeden doch immer wieder so neu sei wie die erste Liebe. Oder er erinnert sich an die Geschichte der Frau, die vergeblich auf die Rückkehr ihres Verlobten, eines Bergmannes, am Tag der Hochzeit wartete, dessen konservierte Leiche man erst zig Jahre später wieder entdeckte und die sich so erst als gealterte Frau auf den Körper des noch jungen Bräutigams legen konnte.

Es ist ein sehr kunstvolles Arrangement geworden, das Helge Schmidt hier mit seinem Team sorgsam eingerichtet hat, um dem wachsenden Problem der Vereinsamung in unserer Gesellschaft, das die Kehrseite der größeren Individualisierung ist, aufzuzeigen. Der unaufdringliche und doch berührende Eindruck, den es auf uns als Zuschauer:innen machte, war so stark, dass nach dem Black am Schluss minutenlang niemand zu klatschen wagte. Man sollte unbedingt die Gelegenheit nutzen, sich diese Theaterinstallation anzusehen.




Birgit Schmalmack vom 29.4.23




Vom einsamen Sterben © Judith Weßbecher


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Dat Leven vun de Liven, Lichthof
Innuendo, Kulturkirche Altona