Moralische Fragen, gut ausgeleuchtet



Ein riesiger heller Trichter (Bühne: Johannes Schütz) leuchtet die Bühne aus. In sich gefangen und dennoch offen erscheint so das Spielfeld. Hier treten die Figuren wie unter einem Brennglas auf. Die Richterin (Julia Wieninger), die in ihrem Beruf aufgeht, auch deswegen weil ihre Ehe etwas lahm geworden ist. Als sie einen Fall bekommt, bei dem sie über das Leben oder Tod eines jungen Mannes (Paul Behren) entscheiden soll, engagiert sie sich über das berufliche Maß hinaus. Einem noch minderjährigen Jungen, der an Leukämie erkrankt ist, werden die lebensrettenden Blutkonserven vorenthalten, weil sie nach seinem und dem Religionsverständnis seiner Eltern nicht erlaubt sind. Denn sie sind Zeugen Jehovas und lehnen die Vermischung mit fremdem Blut ab. Fiona ordnet für den 17-jährigen die Transfusion an und rettet ihm so das Leben. Doch als der junge Mann danach vor ihrer Tür steht und einen Ersatz für seinen verlorenen Glauben einfordert, schickt sie ihn fort. Als er einen Rückfall erleidet, nun schon über 18, lehnt er weitere Behandlungen ab und stirbt kurz darauf. Fiona bricht zusammen. Hat sie den Tod verursacht? Ist sie schuld an dem Tod des Mannes? Hat sie ihm seinen Glauben genommen, ohne dafür die Konsequenzen zu tragen und ihm einen Ersatz anzubieten? Hat sie sich feige aus der Verantwortung geschlichen? Diese Fragen und viele mehr werden in Ian McEwan Roman „Kindeswohl“ angesprochen. Regisseurin Karin Beier versucht sie auf die Bühne des Schauspielhauses zu bringen. Sie wählt dafür eine Mischung aus Erzählung und Szenenspiel. Zwischen zwei Klavieren und drei Livemusikeri:nnen (Bendix Dethleffsen, Michael Heupel, Swantje Tessmann) lässt sie die Personen in kurzen Szene auf- und wieder abtreten, sich begegnen, sich entfernen, sich treffen, sich zurückziehen.
Man fühlt sich an einen Fall von Ferdinand Schirach erinnert. Hier soll Moral verhandelt werden. Eingebettet in eine ganz alltägliche Mid-Life-Ehegeschichte. Aber das Gefühl der Konstruktion will trotz aller Bemühungen um Lebendigkeit nie ganz verschwinden. Die Fragestellungen stehen mehr im Mittelpunkt als die Persönlichkeiten, die hier ihre Geschichte präsentieren. Es ist ein Lehrstück, das zum Nachdenken soll. Diese Absicht ist trotz der tollen Schauspieler:innen immer spürbar.
Birgit Schmalmack vom 6.11.21




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Die unendliche Geschichte, Schauspielhaus
Café populaire, Schauspielhaus