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Hat der Körper das Sagen oder das Gehirn?

Hat der Körper das Sagen oder das Gehirn?
Als der Vorhang sich zur Seite schiebt, erblicken wir uns selbst. Statt Künstlern auf der Bühne blicken wir in einen bühnenbreiten Spiegel, der die Zuschauerreihen verdoppelt. So haben wir uns stets im Blick. Einige winken, um sich entweder zuerkennen oder für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wieder einer hebt den Arm. Ein anderer tut es ihm nach. Die Bewegung setzt sich fort. Schließlich geht es um genau diesen Phänomen, dass aus der Neuro-Psychologie bekannt ist. Menschen sind Nachahmerinnen. Sie lernen von Kindesbeinen an durch die Nachahmung. Dass damit nicht nur Bewegungsmuster und Fähigkeiten einstudiert werden können, sondern auch Empathie eingeübt wird, davon erzählen viele der Expertinnenstimmen, die während des Abends aus dem Off zu hören sind. Geschickt hat Stefan Kaegi von Rimini Protokoll die Aussagen der Wissenschaftler:innen mit den Bewegungen der ins Publikum eingestreuten Tänzer:innen von Sasha Waltz & Guests zu einem sich verstärkenden Gesamtwerk ineinander fließen lassen.
Einige sitzen mit verschränkten Armen da und ziehen sich in die angestammte Rolle der Zuschauenden zurück. Auch ich zunächst. Kaum überlege ich, nicht doch ins Tun der Anderen mit einzustimmen, gesteht mir die Stimme aus dem Off zu, dass ich jedes Recht zum Ausscheren hätte. Ich fühle mich ertappt und gleichzeitig verstanden. Bildete ich mir nicht gerade eben noch etwas auf meinen Widerstandsgeist ein, der sich so einfach nicht catchen lässt? Doch dem Zwang zur Gruppenbildung kann man kaum entgehen. Denn auch alle Zuschauer:innen mit verschränkten Armen (und davon gibt es noch einige mehr im Hamburger Publikum) bilden schließlich eine sich gegenseitig legitimierende Gruppe.
Doch kurz nach der Hälfte ertönen mitreißende Beats und das Licht wird zu düsterem Clubgeflackere. Da hält es kaum noch jemand auf den Sitzen. Auch mich nicht. Denn jetzt ist auch das pure Nachahmen aufgehoben. Auch wenn man beim Blick in den Spiegel wahrnehmen muss, dass unser Tanzen auf dem Fleck doch recht uniform daherkommt.
Im letzten Drittel darf man wieder die zuschauende Position einnehmen. Die Tänzer:innen steigen aus. Sie klettern über die Sitzreihen hinweg durch das Publikum hindurch und tanzen sich über die Treppen hinunter bis vor die Spiegelwand.
Wir würden gemeinsam eine Gesellschaft formen, ein bisschen wie ein Organismus, heißt es aus dem Off. Projizierte Bilder laufen über die Spiegelfläche, die Netzwerke zeichnen. Sie verwandeln sich in eine Nebelwolke, die bald ein Loch erhält, durch das das Scheinwerferlicht auf einen einzelnen Zuschauer fällt. Währenddessen sprechen die Stimmen aus dem Off von Blasen, in denen wir uns denken zu befinden, doch der Nebel verdeckt nur die anderen um uns herum, die ebenfalls sich in anderen Blasen wähnen. Wir würden immer denken bzw. uns wünschen, dass wir so besonders und einzigartig seien. Schon ertönt der Song "You think you are something special" und auch ich kann mich nicht zurückhalten, laut mit einzustimmen, als der Text in Karaokeversion über die Spiegelwand läuft.
Ein sehr klug gebauter Abend, der durchs praktische Erleben Erkenntnisse vermittelt, die ansonsten auf der theoretischen Ebene geblieben wären. Er spiegelt unsere Denk- und Verhaltensweisen auf geschickte, intelligente und unterhaltende Art wieder. Ein toller Abend, der den Erwartungen an Arbeiten von Rimini Protokoll und der Sasha Waltz Compagnie in jeder Hinsicht erfüllte. Dieses Mal sogar in Kombination. Wobei man anmerken muss, dass sich die Choreographie hier ganz in den Dienst der Sache stellte und vornehmlich dienende Funktion übernahm.
Birgit Schmalmack vom 6.12.24




Spiegelneuronen, Kampnagel Bernd Uhlig


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KEIN SCHÖNER SCHLAND, Hf MT