Die Möwe
Man müsste mal was machen
Der Ausblick auf dem Lande ist begrenzt. Eine Wand aus Strohballen (Bühne: Cora Saller) unterbindet jeden Weitblick auf neue Horizonte. So hocken alle auf einem der Ballen und sind vollends damit ausgelastet, ihr Dasein zu ertragen.
Mascha (Franziska Schubert) trägt auch in der schwülsten Sommerhitze schwarze unförmige Wollpullover. Sie leidet so an ihrem langweiligen Leben, dass sie Trauerkleidung angelegt hat. Der biedere Lehrer Semjon (Janning Kahnert) läuft ihr in anhimmelnder Liebe hinterher. Doch Mascha liebt Kostja (Sören Wunderlich). Dieser junge Dichter hat noch Ideale, die den anderen fehlen. Er will neue Formen gegen die alten setzen. Er will das Theater neu erfinden: keine Handlung, keine Personen mehr sondern nur reine Aklamationsprosa. Seine Freundin Nina (Johanna Falckner) hat er dafür als Darstellerin gewinnen könnten. Das passt gut, denn sie träumt von einem ruhmvollen Künstlerdasein auf einer Großstadtbühne. Ihr Vorbild weilt gerade zur Sommerfrische auf dem Landgut: Kostjas berühmte Mutter (Ute Hanning), eine umjubelte Schauspielerdiva. Sie hat ihren neusten Lover, den angesagten Schriftsteller Trigorin (Johannes Flachmeyer) mitgebracht. Dessen Selbstzweifel treffen passgenau auf die jugendlich-unbedarfte Bewunderung Ninas. In der Folge ist nicht nur Kostja eifersüchtig sondern auch seine Mutter. Doch während Kostja einen gescheiterten Selbstmordversuch unternimmt, manipuliert seine Mutter ihren Geliebten so gekonnt, dass er mit ihr abreist.
Im nächsten Sommer sind alle wieder da: In weißer Unterwäsche und langen grauen Zottelhaaren umtanzen sie Kostja. Die Strohwand ist aufgebrochen, nun muss sich Kostja unangenehmen Erkenntnissen stellen: seine berühmt geworden Theaterstücke sind mittlerweile von Personen bevölkert, die genau das symbolisieren, was er immer abgelehnt hat. Er, der sich den großen übergeordneten Fragen widmen wollte, ist im kleinen Alltag auf dem Land hängen geblieben. Der Weitblick der nun möglich gewesen wäre, ist von grauen Haaren verdeckt.
Alice Buddenberg hat das unkaputtbare Stück von Tschechow, das wie kaum eines aus seinem Gesamtwerk die existenziellen Fragen der Menschen auf den Punkt bringt, noch weiter zu konzentrieren versucht. In neunzig Minuten will sie Selbstzweifel, Lebensgier, Ehrgeiz, Liebesbedürftigkeit, Sehnsucht, Enttäuschung und Verbitterung auf die Bühne bringen. Das gelingt nicht allen Personen so gut wie Sören Wunderlich als Kostja. Seine Not wird in jedem seiner Auftritte bis in das Zittern seiner Hände, seiner Mundwinkel und seiner Stimme deutlich. Die anderen Personen werden in dem beschränkenden, flachen Bühnenbild zu Randfiguren degradiert. Der Aufbruch der Ballenwand vor der letzten Szene weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Die Symbolik der verlotterten grauen Gestalten in der letzten Szene wird für viele mysteriös bleiben. Viele kleine Eindrücke stehen am Schluss in dieser Inszenierung von Alice Buddeberg nach dem abrupten Ende nebeneinander und wollen sich zu keinem Ganzen fügen. Welch ein Unterschied zu ihrer Diplominszenierung von 2008 auf Kampnagel, in der sie den Mut zu einer entschiedeneren Neuinterpretation bewies.
Birgit Schmalmack vom 10.12.11
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