König Lear, Münchner Kammerspiele
Im Schweinestall
Der Glanz ist weg. Statt Prunk gibt es nur Lametta. Statt Marmor nur Rindenmulch. Statt Palast nur eine Drehscheibe mit Rollrasen. Statt steinernen Mauern nur gestreifte Stoffbahnen.
Wenig königlich mutet das Ambiente im Reiche Lears an. Die Atmosphäre erinnert eher an einen Zirkus als einen königlichen Hof. Der Zirkusdirektor Lear ist gerade im Begriff abzutreten. Er will seine Manege an seine drei Töchter aufteilen, und zwar je nach der Größe ihrer jeweiligen bekundeten Liebesmenge. Von seinen beiden Erstgeborenen (Annette Paulmann, Sylvana Krappatsch) erhält die wunschgemäße Sülzerei, von seiner heißgeliebten Jüngsten (Marie Jung) aber nur die schnöde, ehrliche Wahrheit. So verstößt er sie kurzerhand.
Dieser König erweist sich schnell als emotionaler, egozentrischer Trotzkopf denn als überlegter, sorgsam kalkulierender Regent. Er handelt aus dem Bauch heraus, statt sorgsam die Konsequenzen zu überlegen. Da er sich auch nebst seiner Jüngsten gleich seines intelligenten Beraters Graf von Kent (Wolfgang Pregler) entledigt, macht er sich nun ganz von seinen zwei viel strategiebewussteren Töchtern abhängig. Die nutzen ihre neu gewonnene Machtposition aus und rächen sich an ihrem Vater, dessen selbstherrlichen Erziehungsstil sie bisher klaglos erdulden mussten. Sie machen ihm unmissverständlich klar: Du bist ab jetzt ein Bittsteller und kannst von uns höchstens ein Gnadenbrot erwarten.
Dieser Machtverlust raubt Lear den Verstand. Seiner gewohnten Macht, die keiner Erklärung und Rechtfertigung bedurfte, beraubt, stürzt er ins Nichts. Doch er wird nicht den Tigern in der Manege vorgeworfen. Sein Fall hat nichts Heldenhaftes zu bieten: Er stürzt ab in den Schweinestall. Fünf dieser Artgenossen erobern den Raum unterhalb seiner Rasenscheibe. Er wird zu einer Kreatur, die außer ihrer nackten Haut nichts mehr besitzt.
Der Intendant der Münchner Kammerspiele Johan Simons macht diesen Ansatz seiner Shakespeare-Interpretation gleich von Anfang an deutlich. Andre Jung stattet diesen abgehalfterten König mit einer Zartheit und Labilität aus, die er unter seinem aggressiven Wüterich-Gehabe versteckt. So kann man nicht nur mit seinen Töchtern sondern auch mit ihm Mitleid haben. Ihre Revanchegelüste versteht man, nachdem er ihnen selbst unklugerweise die Gelegenheit dazu gab. Und doch leidet man auch mit dem armen herumgeschubsten Alten, dessen missliche Lage so ausgenützt wird.
Simons veranstaltet hier ein Bauerntheater, in dem die Menschen ganz auf ihre irdische Beschränktheit zurückgeworfen sind. Aller Flitter ist abgerupft, der Rollrasen hängt in Fetzen und immer mehr der königlichen Robe weicht den hastig übergeworfenen, zerrissenen Stoffstücken. Simons entkleidet den Menschen aller äußeren Fassade und zeigt ungeschminkt die Gewalt, die Rachegelüste, den Wahnsinn und die Rohheit, die darunter zum Vorschein kommt.
Ein mutiges Stück und eine mutige Jury, die es zum diesjährigen Hamburger Theaterfestival eingeladen hat. Dem oft geäußerten Vorwurf, dass die Stücke nur nach Publikumsgeschmack und Verkaufszahlen ausgewählt würden, begegnet sie 2013 mit größerem Mut zu provozierenden Inszenierungen, die auch herausfordern und anstrengen dürfen.
Birgit Schmalmack vom 31.10.13