Kiezstürmer 2019

Kiezstürmer 2019

landstreichen
Ein junger Mann schleppt im Dämmerlicht Gegenstände auf die Bühne. Im Laufe seines Hin- und Herschleppens verwandelt er sich zu einer fülligen Frau in Unterwäsche. Gezeichnet vom Leben geht sie gebückt. Auch eine Matratze ist unter den Gegenstände. Und ein Schlafsack. Ein Schlaflager entsteht. Dazu dröhnt der Straßen- und Baulärm der Stadt. Seit Tagen könne sie nicht schlafen, klagt sie. Sie wälzt sich auf ihrer Matratze und zeiht sich die Bettdecke über den Kopf. Dennoch wird in ihrem Bemühen um die Gestaltung ihres Platzes erkennbar, dass es ihr um die Schaffung eines eigenen Raumes geht. Sie will ihre Individualität und ihre Würde erhalten, auch unter diesen schwierigen Bedingungen. Als die Frau zum Schluss wieder zum jungen Mann wird, zitiert er ein Gedicht, das von Freiheit spricht.
Jungregisseurin Helena Bennett wagt eine Inszenierung zum Thema Obdachlosigkeit ohne Klischeeeinlösung. Sie lässt einfach zuschauen. Sie entwickelt die Figur auf der Bühne hauptsächlich über die starke körperliche Präsenz des Schauspielers. Fast ohne Worte lässt sie seine Körperlichkeit für sich sprechen. Sie lässt Raum für die Assoziationen der Zuschauer. Aber sie vermeidet auch klare Trennlinien. Die Verwandlung der Schauspielers vollzieht sich fließend. Eine Arbeitsprobe, die neugierig auf eine Weiterentwicklung der angesprochenen Gedanken, der verwendeten Stilmittel und angerissenen Geschichten macht.
Hitler baby one more time
Dor Aloni begibt sich auf die Suche nach seiner Identität. Ist das Ausweispapier, das er währenddessen durch die Reihen reicht, dafür wichtig? Der Israeli Aloni hat erstmal eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland bis März, mehr nicht. Direkt vor dem Publikum am Mikro stehend, beschreibt er seinen Weg ausgerechnet in dieses Land. Als Kind spielte er Ameisen-Holcaust. Er war Hitler und konnte jede Ameise aus dem Haufen töten, die er sich aussuchte. Wie groß ist der Entwicklungsspielraum für ein Kind, das in der Schule zu einem Angehörigen eines Opfer-Volkes erzogen worden ist? Doch Aloni will nicht mehr zum einem Volk der Gejagten gehören. Er will dieses Erbe nicht antreten. Was habe er schließlich mit der Verfolgung der früheren Generationen zu tun?
Im Skype-Video mit seiner Mutter stellt er sich die Frage, was ihn denn als Jude erkennbar machen würde, wenn er doch eher arabisch aussehe? Er könne doch einfach behaupten, er sei Palästinenser, schlägt seine Mutter grinsend vor. So sei es eben, wenn die Muttersprache der Mutter nicht seine Muttersprache wäre. Im Übrigen sei auch die Sprache der Großmutter nicht die Muttersprache seiner Mutter gewesen. Einfache Antworten sind nicht im Angebot.
Wenn er sich zum Schluss unter die Dusche stellt, kommt nur Wasser aus der Brause. Nicht, wie in der Geschichte, die den Kindern früher erzählt wurde: Dusche nie, wenn es schon dunkle geworden ist. Dann kommt Gas statt Wasser aus der Brause.
Unglaublich souverän, humorvoll und selbstironisch erzählt Dor Aloni von seiner Spurensuche. Ein intensiver Beitrag zur Beschäftigung mit dem Erbe von geschichtlicher Vergangenheit, die in Deutschland immer wieder geführt werden muss. Dieses Mal aus einer frischen, provozierenden, hintersinnigen und unterhaltsamen Perspektive.
Birgit Schmalmack vom 29.10.19




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Olli Dietrich, Theaterfestival
Der Sohn, St.-Pauli Theater