Tenir le Temps, Kampnagel


Individuum und Masse

Ein Mann steht alleine auf der leeren Bühne. Die Klaviermusik bringt seine Muskeln langsam in Bewegung. Erst nur zu einzelnen kleinen Bewegungen, doch schließlich zuckt sein ganzer Körper im Takt der Musik. Dann hat seine Sonderstellung ein Ende. Immer mehr Tänzer stehen ihm bald als geformte Gruppe gegenüber und machen ihm klar, welchen Tanzstil sie bevorzugen. Große Armschwünge, ausladende Bewegungen, schnelles Laufen. Er will sich drücken, da fangen sie ihn einfach ein und ziehen mit in ihre Gruppe. Die Beziehungen zwischen dem Individum und der Gruppe sind das Thema von "Tenir le Temps" des französischen Choreographen Rachid Ouramdane.
Stets haben sie sich gegenseitig im Blick. Achten sie aufeinander oder kontrollieren sie sich? Regen sie sich an oder manipulieren sie sich? Werden alle auf Stromlinienförmigkeit gepolt? Oder betreiben sie achtvolles Teamworking? Die 15 Tänzer seiner Tanzcompagnie zeigen im Verlauf der drei Akte alle Variationen. Blitzschnell kann sich das Aufhelfen zu einem Schubsen verwandeln. Das sanfte Berühren wird zu einem Dirigieren in die eigene Richtung. Der Zwang mitzumachen schwebt über allem, will man Teil der Gruppe bleiben. Selbst wenn jemand eine Sonderrolle einnimmt, macht ihm die Gruppe schnell klar, dass dies nur eine Ausnahme bleiben muss. So auch als der Stepptänzer ein Solo hinlegt, während die anderen mit militärischem Drill im Gleichschritt losschreiten.
Tenir le Temps ist eine der wenigen abstrakten Arbeiten von Ouramdane, der ansonsten mit Migranten, Flüchtlingen und Benachteiligten gearbeitet hat. Sie entfaltete nicht zuletzt wegen der Musik von Jean-Baptiste Julien eine Spannung, die über weite Teile des Abends gefangen nahm.
Birgit Schmalmack vom 26.8.16




Tenir le Temps Foto: Patrick Imbert


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