Neue Vahr Süd



Das dialektische Naturtalent

Herr Lehmann ist ein Naturtalent in Sachen Dialektik. Unbelastet von dem theoretischen Vorwissen seiner studierten Freunde, kann er sie in seinem Alltag praktisch anwenden. Hauptsächlich wendet er sie in zahlreichen Selbstgesprächen an. Immer wieder hat er das Gefühl in seinem Leben würde das Nachdenken zu kurz kommen. Doch wenn er dann über das Nachdenkt nachdenkt, muss er feststellen, dass das Konzentration beim Konzentrieren schnell verloren geht.
Obwohl er eher zum Typ Hippie gehört, landet er als knapp 21-Jähriger bei der Bundeswehr; das Verweigern hat er schlichtweg verschlampt. Während Sven Fricke am Bühnenrand geknickt seine eigene Tranigkeit eingesteht, tauchen hinter ihm Eltern, Freunde und Vorgesetzte auf und steuern ihre Ratschläge, Vorwürfe und Kommentare zu seinem Leben bei.
Wie Frank Lehmann zu "Herrn Lehmann" aus dem Kultstück des letzten Jahres im Altonaer Theater wurde, kann man zur Zeit in Sven Regners biographischen Vorgänger "Neue Vahr Süd" erfahren. Eine jüngere Version von Lehmann steht nun auf der Bühne zwischen den Versatzstücken seines Lebens aus den Achtzigern. Kletterlust ist Grundvoraussetzungen für das junge Ensemble, das Lehmanns Leben bevölkert. Denn die Bühne besteht aus sorgsam aufeinandergestapelten Sperrmüllteilen und Bretterverschlägen. Sie wirkt wie eine improvisierte Studentenbude in unsaniertem, billigem Altbau. Hier haust der unpolitische Frank mit seinen überaus engagierten WG-Genossen der Marxisten-Leninisten-Fraktion.
Ein rollbares Etagenbett wird schnell herausgezogen und Frank ist in seiner Parallelwelt "Bundeswehr" angekommen. Hier fristet er unter dem hohen Geräuschpegel der ständigen Brüllattacken seiner Vorgesetzten die Zeit des Grundwehrdienstes. Als er später als Heimschläfer in die Kaserne in "Neue Vahr Süd", seinem Heimatstadtteil von Bremen, versetzt wird, muss er statt der dauernden Demütigungen nun die völlige Sinnlosigkeit und Langeweile überstehen. Auch hier ist seine Fähigkeit zur Dialektik gefordert, die er um den Sinn für Pragmatismus bereichert. Wird er gefragt, was ihm als das Wichtigste im Leben gelte, meint er schlicht: "Meine Essensmarken, die sind essentiell wichtig."
Trashige Bühne, junges Ensemble, tolle Darsteller, Achtziger-Jahre-Ambiente mit passender Musik und witzige Dialoge machen den Abend zu einem leichten Vergnügen mit den melancholischen Untertönen eines sympathischen, autodidaktischen Philosophen.
Birgit Schmalmack vom 5.4.11



Zur Kritik von

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