Die Masse, Lessingtage
Ein Lehrstück über Massenbewegungen
Welchen Mechanismen unterliegen Massenbewegungen? Das untersuchte nicht nur Ibsen in seinem Volksfeind sondern auch Le Bond in seiner Abhandlung über die Masse. Beide dienen dem chinesischen Autor Nick Yu Rong Jun als Anregungsquelle für sein Stück „Die Masse“, das jetzt im Rahmen der Lessingtage im Thalia in der Gaußstraße als Gastspiel der Shanghai Dramatic Arts aufgeführt wurde. 40 Jahre chinesischer Geschichte bieten schließlich reichlich Stoff für Strukturanalysen zum Thema Massenbewegungen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen.
Nicht nur die Krähen finden sich immer wieder in Massen zusammen sondern auch die Menschen. Während der Kulturrevolution standen sich plötzlich als Feinde Arbeitskollegen und Nachbarn gegenüber und griffen zu den Waffen, alle in dem festen Glauben, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Masse hat recht, auch wenn ihre Meinung zu Lasten anderer Individuen geht.
Ein kleiner Junge muss die Ermordung seiner Mutter mit eigenen Augen miterleben, als er mit ihr zwischen die Fronten gerät. Dieses Erlebnis soll sein weiteres Leben bestimmen; es wird ihn nie wieder loslassen, so wie viele andere Kinder der Täter und Opfer auch. Sie tragen das Erbe der Geschichteihrer Vorfahren in sich und werden zu einer neuen Menge, die ebenfalls zu neuen Tätern oder Opfern werden. Von der Kulturrevolution bis zu heutigen Demonstrationen in Hongkong gegen die Beschneidung persönlicher Freiheiten umfasst die Studie von Nick Yu Rong Jun, deren Erkenntnisse er anhand des Schicksales eines Mannes deutlich macht.
Regisseur Tang Wai Kit lässt seine Schauspieler zwischen leidenschaftlichem Pathos und distanziertem Berichten ständig hin- und herwechseln. Wie im Lehrtheater ganz in der Tradition Bertolt Brechts lässt er zu keiner Zeit die Illusion zu, dem tatsächlichen Schicksal der Personen beizuwohnen. Die Darsteller spielen stets eine Rolle. So sollte verhindert werden, dass auch das Publikum zu einer Masse wird, die von der Bühne beeinflusst wird, erklärte der Autor beim anschließenden Publikumsgespräch. Mitreißendes Theater sieht anders aus, aber ein anregender, inhaltlich anspruchsvoller Abend ist es allemal.
Birgit Schmalmack vom 1.2.16