Nathan der Weise, Münchner Volkstheater
Nathan der Weise, Münchner Volkstheater
© Arno Declair
Was ist der Mensch?
Wodurch wird der Mensch definiert? Durch seine Volkszugehörigkeit? Durch seine Religion? Oder darf er zunächst einmal einfach ein Mensch sein? Diese Frage wird wohl leider stets aktuell bleiben. In Lessings Klassiker „Nathan der Wiese“ werden diese Zuschreibungen unter die Lupe genommen. In Jerusalem in den Zeiten des dritten Kreuzzuges scheint Versöhnung zwischen Juden, Christen und Muslimen unmöglich. Doch Nathan steht für die Aussöhnung und die Vernunft. Jude, so nennen ihn alle, die ihn noch nicht kennen. Mein Name ist Nathan, erwidert er dann stets. Mit seiner berühmten Ringparabel erklärt er den einzigen Sinn der verschiedenen Religion in ihrem Wettstreit um den besten Weg. Doch bei der theoretischen Gleichnissen bleibt es nicht. Nathan muss seine Weisheit ganz praktisch unter Beweis stellen.
Seine Pflegetochter Recha, die von christlichen Eltern stammt, hat er mit großer Fürsorge aufgezogen. Als diese von einem Tempelritter aus Nathans brennenden Haus gerettet wird, ist die große Liebe zwischen den Beiden vorprogrammiert, obwohl sich der Christ noch mit allen Kräften gegen das Gefühl für eine „Jüdin“ wehrt. Doch auch der ständig klamme muslimische Herrscher Saladin hat nicht nur ein Interesse am Geld Nathans sondern auch an Recha. Dass zum Schluss alle, der Sultan, Recha und der Tempelherr miteinander verwandt sind, könnte ein Happy-End bedeuten. Regisseur Christian Stückl sieht das allerdings skeptisch. Eine Versöhnung sind anders aus: Bei ihm klemmt sich der Sultan Recha einfach unter den Arm und schleppt sie ab. Der aufschäumende Tempelherr zieht beleidigt ab; er fühlt sich seiner Liebe beraubt. Nathan bleibt allein zurück. Vor historischen Bildern der Kriegsgräuel während der Kreuzzüge versucht er sich mit einer Zigarette zu beruhigen.
Auf den Holzwellen des Bühnenboden versuchen die Menschen im Auf und Ab der Zugehörigkeiten und der damit verbundenen Ungewissheiten nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren. Die Gefahr plötzlich als zur verkehrten Gruppe dazugehörig erklärt zu werden, schwebt ständig über allen. Selbst als der Sultan Wahrheit von Nathan einfordert, muss dieser mit einer List rechnen und greift auf sein „Ringmärchen“, wie der verschlagene Bruder des Sultans es nennt, zurück. August Zirner ist das Zentrum der Aufführung. Als in sich ruhender, sympathischer und intelligenter Nathan stellt er die einzig verlässliche Größe zur Orientierung dar. Regisseur Stückl erzählt den Klassiker als spannende, lebensnahe, hochemotionale Geschichte. Eine sehenswerte Aufführung im Rahmen des Theaterfestivals.
Birgit Schmalmack vom 25.10.15