Annes Schweigen


Das Erbe der Verdrängnis

Warum stürzen sich die Kraniche an einer bestimmten Stelle ins Meer, fragten sich die Forscher lange. Bis sie herausfanden, dass dies die Stelle war, wo die Kraniche herkamen. Diese Geschichte steht am Anfang einer weiteren über Heimat und Sterben. Anne, die Mutter der Deutsch-Türkin Sabiha, hat ihr Leben darüber lang geschwiegen, wo ihre Wurzeln waren. Ihre Tochter wuchs in Deutschland in dem Glauben auf, sie sei eine Türkin. Erst nach ihrem Tod erfährt sie, dass ihre Mutter Armenierin war.
Warum dieses Schweigen? Das fragen sich die beiden Ich-Erzählerinnen in „Annes Schweigen“, Sabiha und ihre deutsche Freundin, die sich auch Anne nennt. Vielleicht sind aber auch eine Person und sprechen für die beiden Perspektiven der Deutsch-Türkin. Als reine Deutsche konnte sie sich nie sehen. Doch fand sie bisher ihren sicheren, eindeutigen Halt in der Community der türkischen Nationalisten, muss sie nach dem Tode der Mutter alles in Frage stellen, an was sie bisher geglaubt hatte. Der Monolog reflektiert die zahlreichen Schwierigkeiten der zweiten Generation, ihre eigene Position in Deutschland zu finden. Ihre Eltern konnten ihnen dabei kein Vorbild sein und die deutsche Gesellschaft lässt sie mit diesen Fragen alleine. Warum allerdings gerade die Armenier sich zum Schweigen gezwungen fühlten, wird nicht erklärt.
Die Produktion vom Theater unter Dach aus Berlin wagt sich an ein heißes Eisen. Aus offizieller türkischer Sicht hat es keinen Völkermord an den Armeniern gegeben. Aus armenischer steht er zweifelsfrei fest. Aus deutscher Sicht übt man sich weitgehend in vornehmer Zurückhaltung. Doch für die drei Podiumsteilnehmer, den türkischstämmige Autor Doğan Akhanlı, den armenischstämmige Publizist und den syrisch-aramaischstämmige Wissenschaftler, die alle drei in Deutschland leben und arbeiten, ist es klar: Sie ist durch die Migration auch zu einer deutschen Angelegenheit geworden. Gerade durch die weitgehende Ignorierung der außereuropäischen Geschichte im Geschichtsunterricht und der Gesellschaft könne einer undifferenzierten Idealisierung unter den nächsten Generationen Vorschub geleistet werden.
Die Inszenierung unter Regisseur Ron Rosenberg lässt allerdings nur eine Sichtweise zu: Die türkische wird durch hetzende faschistische Nationalisten vertreten, Kurden werden mit einem lauten „Mäh“ verunglimpft und die Armenier schweigen pflichtbewusst bis zur Selbstverleugnung. Bea Ehlers-Kerbekian spielt mit großen Gesten, expressiver Mimik und viel Bewegung auf dem kleinen Bühnenpodest. Dieser Pathos und diese Überspitzung laden nicht unbedingt zur offenen Auseinandersetzung ein.
Der Wunsch nach ambitionierten Botschaften und künstlerischer Freiheit bei der Umsetzung findet nicht immer zu einem gelungenen und aussagekräftigen Ganzen zusammen. Leider fand Regisseur Ron Rosenberg in dieser Inszenierung nicht immer die richtige Balance zwischen beiden Aspekten.
Birgit Schmalmack vom 20.9.13



Zur Kritik von

Akt 
taz 
 



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