Auf der Flucht

Die eine braucht dringend einen Raum der Intimität, die andere reiht sich nur in eine der Schlangen ein, damit sie sich nicht so alleine fühlt. Die Dritte ist schwer traumatisiert und die Letzte hält sich für etwas Besseres. Vier Frauen, alle sind sie aus der Ukraine ins Exil gegangen. Nun fristen sie ihre Tage in der Unterkunft, mögen keines der Angebote nutzen, kein kostenloser Besuch im Museum, keine Fahrt mit den Öffis, kein Besuch im Theater, auch zum Sprachkurs mag sich kaum eine von ihnen aufraffen. Alle haben ihre Gründe: Die Nageldesignerin (Tanya Kargaeva) ist tagelang in Butscha vergewaltigt worden, die Hausfrau (Maryna Klimova) hat drei Kinder und ihr Mann ist an der Front erschossen worden, die Katzenliebhaberin (Julia Slepneva ) konnte nur zwei ihrer Katzen mit über die Grenze schmuggeln, ihre anderen drei musste sie zurücklassen. Und die Schauspielerin (grandios: Svetlana Belesova ) behauptet immer wieder, sie sei hier sowieso nur für ein neues Projekt. Sie ist die einzige, die kein Leid zu beklagen hat, dafür muss sie jedes spielen können.
Die Autorin Natalka Vorozhbyt hat für die Münchner Kammerspiele ein schwarz-humoriges Szenendrama über die eigene Positionierung auf der Flucht geschrieben. Auch wenn hier keine lange und gefährliche Fluchtroute zu überwinden war, hinterlässt sie Spuren, die einen Neubeginn in weite Ferne rücken. Ist Solidarität angesichts des vermeintlich gleichen Schicksals zu erwarten? Ein Trugschluss, wie das entweder gleichgültige, abschätzige oder aggressive Nebeneinander der Frauen andeutet.
Regisseur Jan-Christoph Gockel findet für die Abfolge der kurzen Einblicke in das neue Leben der Frauen eine ebenso lakonische, temporeiche, pointierte wie drastische Weise der Darstellung. Vor der Wand, die nur einen passend schmalen Bewegungsraum für die Frauen in ihrer neuen Umgebung frei lässt, schieben sich ihre Geschichten wie bewegte Bilder entlang. Die Live-Zeichnerin Sofiia Melnyk malt ihnen dabei die Requisiten einfach auf die Wand. Da hocken sie sich auf den gezeichneten Stuhl, da legen sie sich auf das gemalte Bett, da führen sie den gezeichneten Hund an der Leine. Doch ebenso kann sie auch mit roten Pinselstrichen das Blut fließen lassen oder mit groben Strichen eine Person gleichsam wegstreichen. Die Live-Musik von Anton Berman dazu reicht von zart bis bombastisch.
Die fünf Schauspielerinnen (zwei aus dem Münchner Ensemble und drei aus der Ukraine) schlüpfen immer wieder in neue Rollen, die wie Schlaglichter die schwierigen Bedingungen zwischen Weggehen und Ankommen beschreiben. Da ist von Schuld, von Verantwortung, von Erinnerung, von Vergessen, von Patriotismus, von Trauer, von Trauma, von Heimweh, von Sehnsucht und von Neuanfang die Rede. Auch die Seite der Aufnehmenden wird beleuchtet. Da ist der hilfsbereite Hans, der einer der Frauen so gerne eine männliche Stütze wäre. Als die eine ablehnt, versucht er es bei der Nächsten. Da ist die Sozialarbeiterin, die von ihrer Arbeit so angegriffen ist, dass sie sich schließlich von den Ukrainerinnen trösten lassen muss.
Da die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit auskommt, werden die Biographien dreier ermordeter Ukrainer vor und während des Zweiten Weltkrieges angerissen. Ein Komponist, eine Dichterin und der umstrittene Freiheitskämpfer Bandera fließen in die Fluchtgeschichten mit ein, und zwar als Ausschnitte aus den Filmprojekten der Schauspielerin. Eine Ebene, die nicht zwingend einleuchtet und demzufolge auch auf der Bühne diskutiert und dann abgebrochen wird. Ein mit scheinbar leichter Hand inszenierter Stoff, der dabei eigentlich nur von Unmenschlichkeit, Unrecht und Gewalt erzählt. Eine Balanceakt, der dem Regisseur mit seinem grandiosen Team herausragend gelingt.
Birgit Schmalmack vom 26.1.24




Green Corridor, Lessingtage Münchner Kammerspiele, Jan Christoph Gockel


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No Horizon, Thalia
Antigone im Amazonas, Lessingtage