Der Unterschied zw erinnern und nicht vergessen


Was ist eigentlich der Unterschied zwischen vergessen und nicht erinnern? Das fragt sich Ayse, als sie mit Ali darüber spricht, was das alles zu bedeuten hat, was sie jeden Tag beobachten und dennoch nicht verstehen können. Es sind Schwarz-Weiß-Schnipseln von Eindrücken, Gesehenem und Gehörtem, das sie gemeinsam versuchen einzuordnen. Dabei kommen die beiden Kinder aus völlig unterschiedlichen Sphären. Ayse stammt aus einem gutbürgerlichen Intellektuellen-Haushalt und Ali aus einer armen Arbeiterfamilie. Beide sind acht Jahre alt und leben in Ankara. Es ist Sommer 1980. In Ankara sind es turbulente Zeiten. Die Rechten und die Linken bekämpfen sich in der Politik, im Alltag und auf der Straße. Bis am 12.9.80 die Panzer anrollen und der Militärputsch den Auseinandersetzungen ein Ende setzt. Generalstabschef Kenan Evren, der Anführer des Putsches von 1980, wurde später nicht müde, zu sagen: "Wir werden eine Generation heranziehen, die sich weder an euch noch an eure Kämpfe erinnert."
Für die beiden Kinder werden die Schwäne zu einem Symbol der Freiheit bzw. der gestutzten Freiheit. Als den Schwänen im Stadtpark die Flügel gebrochen werden sollen, setzen sie zu einer Rettungsaktion an. Ob es ihnen ebenso gelingen wird, wie Hunderte von Schmetterlingen ins Parlament zu bringen? Das gelang den beiden durch einen Trick. Ayse begleitete ihre Mutter zu einem Termin ins Gebäude und deponierte einen Schwung Larven mit einem Vorrat an Maulbeerblättern in einem Versteck. In den Schwänen nun sollen die Revolutionäre weiterleben und fortfliegen können, die während des Putsches verhaftet und ermordet worden sind.
Ayse und Ali sind zwei hellwache Kinder, zwei kluge Beobachtende und zwei Idealisten. Weil die Erwachsenen sie unterschätzen, reden sie in ihrer Gegenwart über die politischen Entwicklungen, aber nicht mit den Kindern. So machen sich die Beiden ihren eigenen Reim auf die Geschehnisse. Wie sie ihre Gespräche auf dem kleinen, in die Jahre gekommenen Spielplatz-Karussell miteinander führen, während sie Anschwung holen, auf den Streben balancieren, sich an die Stangen hängen, sich auf den drehenden Boden legen - das hat gleichzeitig etwas von einem heiligen Ernst und von einer spielerischen Leichtigkeit. Shahin Sheikho und Sinem Süle schaffen es scheinbar spielend leicht, sowohl die Kinder als auch ihre erwachsene Umgebung auf der Bühne erscheinen zu lassen. Alles jeweils nur mit zarten Andeutungen in der Spielhaltung. Außerdem machen sie die starke Verbindung zwischen Ayse und Ali spürbar, die zwischen Kindern entstehen kann, die einer realen Herausforderung mit der Erschaffung eines eigenen Fantasieentwurfs begegnen.
Die Autorin Ece Temelkuran hat mit ihrem Roman "Stumme Schwäne" einen Text geschrieben, der eigentlich in der Vergangenheit spielt, aber dennoch klare Bezüge zur Gegenwart aufzeigt. Denn das Leben in der Türkei befindet sich, wie es im Originaltitel "Kreis" angedeutet wird, in einem Kreislauf zwischen Aufbruch, Erstarrung, Aufbegehren, Revolte und Unterdrückung, bis alles wieder von vorne beginnt. Temelkuran musste die Türkei nach 2016 verlassen und lebt nun im Exil.
Regisseurin Sophie Pahlke Luz hat mit ihrem Team ein knapp einstündiges Extrakt auf dem Roman in der Garage des Thalias in der Gaußstraße auf die Bühne gebracht. Mit nur wenigen Stilmitteln, einem passend kreisrunden Karussell und zwei exzellenten Schauspieler:innen hat sie quasi einen Appetizer inszeniert, dem man wünscht, dass dieser Stoff mit diesem Team noch einmal ausführlicher in einer Langfassung zu sehen sein wird.
Birgit Schmalmack vom 21.11.23