Secondhandzeit, Thalia



Der Sieg der Wurst

"Wir hatten einen Vergangenheit und wir hatten eine Zukunft. Wir hatten alles!" Die junge Frau liebt den roten Platz in Moskau. Er symbolisiert für sie alles, was ihr Leben, Denken, Wissen und Hoffen ausmacht. Sie liebt Stalin. Die Vorstellung, Teil der großen Idee der Erneuerung zu sein, elektrisiert sie. Der große Sprung, den Lenin erreichen will, ist ihr das Lebenselixier, das ungeahnte Kräfte freisetzt. Die Gemeinschaft des Volkes steht für sie unangreifbar über ihrer Individualität.
Die Autorin Swetlana Alexijewitsch ist jahrelang durch ehemalige Sowjetrepubliken gereist, hauptsächlich durch Weißrussland und die Ukraine, hat den Sowjetmenschen zugehört und ihre Geschichten aufgeschrieben. Ein über 500seitiges Werk ist dabei entstanden, das Alicia Aumüller zu Beginn des Abends "Secondhandzeit" in den Händen hält. Noch steht sie außerhalb der marmornen Spielfeldes. Doch dann steigt sie in die Lebensgeschichten ein. Mit eiserner Hand sollen die Menschen ins Paradies geführt werden. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen. Jeder kann sich als passives Objekt oder Gewinner der Partei ansehen, um seine übermäßige Anpassungsfähigkeit oder seine momentanen Vorteile zu kaschieren. Die Bespitzelung und Denunziation durch Verwandte, Nachbarn und Freunde gehören zum Alltag, die stets zu neuem Verrat führen kann.
Die Perestroika ist für viele der Anfang vom Ende. "Ich glaube es nicht, es gibt wieder Arme und Reiche!" Die große Erzählung der Revolution des Volkes hat inzwischen unübersehbare Risse bekommen, doch ihre Erneuerung scheint fraglich. Die Öffnung unterstützt auch die auseinanderstrebenden Kräfte. Das Ich wird nun wichtiger als das Wir. "Einsamkeit ist Freiheit, fast wie Glück", erkennt am Schluss die Frau, die mittlerweile ihr hochgeschlossenes rotes Kleid, ihre Stiefel und ihre Zopffrisur gegen ein seidiges Neglige, schwarze Nylons und eine lange Mähne getauscht hat. Sie wird ohne Stalin leben müssen. Statt des vermeintlichen Gleichheits-Paradieses wird ihr jetzt angeboten, sich ihr Glück einfach "auf russisch" zu kaufen.
Regisseurin Johanna Louise Witt hat mit Alicia Aumüller exemplarisch einige Lebenserzählungen aus dem Kaleidoskop " Secondhandzeit" von Alexijewitsch ausgewählt, um die Geschichte vom Ende der Sowjetrepublik lebendig werden zu lassen. Sie versuchen so dem " Homo Sovieticus " mit seiner bedingungslosen Hingabe, mit seiner Opferbereitschaft, seiner Leidensfähigkeit, seiner Geschmeidigkeit, seinem Gemeinschaftssinn, seiner Kauflust und seinem Hang zu Liebesschwüren nahe zu kommen und seine Entwicklung nachfühlbar werden zu lassen. Einen allumfassenden Überblick, wie ihn die Autorin Alexijewitsch erarbeitet hat, sollte man in dem knapp eineinhalbstündigen Abend nicht erwarten, doch exemplarische Schlaglichtern auf einzelne Stellvertreter gelingen dem Team in dem mitreißenden, spannenden Soloabend.
Birgit Schmalmack vom 1.12.17