Die Geschichte der Menschheit ist eine der Migrati

On the first night we looked on maps, TD Foto: Jana Kiesser





Alle nehmen um einen großen Tisch Platz. Wie zu einem Familienessen. Scheinbar geht es nur um die Familie Schwindt. Doch während die Karten auf dem Tisch immer mehr werden, wird: Die Wege der Familie Schwindt zeichnen die Wege der gesamten Weltfamilie nach. Denn die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration. Die beiden Performer Federico & Wenzel Vöcks de Schwindt verweben ihre eigene Geschichte mit der der Welt.

Federico kam als Coachsurfer in die Wohnung von Wenzel und blieb. Mittlerweile sind sie verheiratet. Nun fragt er sich: Was hat meine Herkunft mit unserer Beziehung zu tun? Wollte ich insgeheim "zurück nach Deutschland" gehen. Denn Federicos Familienname ist Schwindt. Ungewöhnlich für eine Familie, die seit Generationen in Argentinien lebt. 1763 ist das erste Jahreszahlenschild, das die beiden Performer auf den großen Tisch stellen. 1763 beginnt die große Wanderung. Die heute so genannten "Wolgadeutschen" werden von der Katharina der Großen eingeladen, sich in Russland anzusiedeln. Doch statt freier Ortswahl wird Ihnen kahles russisches Steppenland zugewiesen, in dem sie nichts anderes vorfinden als die nackte Erde. Keine Häuser, kein Material, keine Werkzeuge. Den ersten Winter überleben sie in Höhlen unter der Erde mit Eisscheiben aus dem nahe gelegenen Fluss als Fensterersatz. Dennoch wurden dieses Gebiet zur ihren neuen Heimat, in der sie ihr Deutschsein konservierten und pflegten. Doch als 100 Jahre später ihre Rechte der Autonomie beschnitten werden sollten, suchten sie eine Alternative. Brasilien bot sich an, doch der Ausbruch des Gelbfiebers brachte sie stattdessen nach Argentinien.

Auch Wenzels Großvater hat eine Migrationsgeschichte: Seine Familie wurde aus Ostpreußen vertrieben, kam erst nach Leipzig in die entstehende DDR und zog später um nach Mecklenburg Vorpommern. Überaus informativ und zugleich sehr charmant erklären die beiden Performaner die Zusammenhänge: die großen Weltumspannenden wie die kleinen Familieninternen. Sachliches und Persönliches mischen sie gekonnt. Witzig der Einfall, die Reise von Russland nach Südamerika als Papiertheater zusammen mit dem Publikum nachzuspielen. Kleine, von den Zuschauenden selbst ausgeschnittene Papierfiguren an Holzstäben wandern so um den großen Tisch. Zum Schluss singt Federicos Großvater das "Lied der Wolgadeutschen". Es wird klar: Der Traum von der Heimat wird immer schöner bleiben als das Land selbst. Das merkten auch die Wolgadeutschen, als sie auf ihrer Reise nach Amerika durch Deutschland kamen. Um ihr Bild von diesem Heimatland zu erhalten, mussten sie schnell wieder abreisen.

Birgit Schmalmack vom 8.7.21