Gemeinsamkeit durch Individualität

Earthbound, Kampnagel Foto: Timothee Lejolivet



Ganz unaufgeregt beginnt der Abend. Zwei DJ-Pulte stehen in der Mitte der leeren Bühne. Nur zögerlich trudeln die beiden Musiker ein. Einförmige Minimal-Music-Beats locken sie mit ihren Geräten hervor. Einzelne Tänzer kommen langsam die Treppen hinunter, treten hinter den Vorhängen hervor und verschwinden schnell wieder. Eine Tänzerin im kurzen roten Samtkleid zu derben Boots nähert sich in pantonmimisch verzögerten Wellenbewegungen. Einige der anderen Tänzer kehren zurück und behutsam scheint sich eine tänzerische Annäherung zu entwickeln. Die Wellenbewegungen der einen werden auf andere Körper übertragen, jedoch ohne jede Berührung derselben.
Dieses Motiv der gegenseitigen Anregung zieht sich durch die gesamte Choreographie "Earthbound" von Johanna Faye und Saïdo Lehlouh, die auf Kampnagel im Rahmen des Fesrivals "Fokus Tanz" zu sehen war.. Hier begegneten sich zwei Musiker (NSDOS, Lumi Sow ) und sechs Tänzer*innen (Kaê Carvalho, Jerson Diasonama, Alesya Dobysh, Eliane Edou aka Ndoho, Filipe Francisco Pereira Silva, Lumi Sow) auf der Bühne und treten unter dem Vorzeichen des HipHops miteinander in Kommunikation. Jede*r von ihnen bringt dabei ganz unterschiedliche Tanz- und Musiksprachen mit ein. Hier darf man Begegnungen beiwohnen, die sich ganz organisch entwickeln. Fast scheint es, als wenn hier ein Eingreifen der Regie fehlte. Einzig die Individualitäten der beteiligten Künstler*innen liefern den Boden, auf dem diese Auseinandersetzung und Verständigung stattfindet. Ihre unterschiedlichen Tanzstile wie Voguing, Locking, House oder Waacking werden kontrastiert, aufgenommen, weitergesponnen, verändert und zu einem gemeinsamen Tanzerlebnis entwickelt. Ihrer gemeinsamen Erden-Existenz verpflichtet, suchen diese Menschen, die durch ihren Tanz ganz dem Boden verbunden sind, nach gemeinsamen Ausdruck- und Verständigungsformen. Dabei nehmen sie sich Zeit füreinander schauen und hören sich aufmerksam zu, und greifen die Anregungen des Gegenübers auf. Wer einen emotionsgeladenen eruptiven Tanzabend erwartet hatte, wurde größtenteils enttäuscht. Hier wurde weniger der oder die Einzelne in den Mittelpunkt gestellt, als vielmehr die Erkundung eines Gemeinsamen.
Birgit Schmalmack von 25.2.22