"SEA", "Apollon" & "Fog machine"

Event für alle
Die Einheizer vor dem Beginn von "SEA (Singular extrem action)" machen klar: Diese Show ist kein elitäres Hochkultur-Projekt, sondern ein unterhaltsames Event für alle. Hier ist ausdrücklich erwünscht, was sonst verboten ist. "Nehmt eure Handys raus, macht Fotos und Videos von uns und macht so viel Lärm wie ihr könnt." Denn bei der New Yorker Choreographin Elizabeth Strebs treten „Extreme Action Heroes" auf und präsentieren ihr Nerven kitzelndes Können. Ob sie sich unter einen rotierenden Stahlträger legen, der immer direkt an ihrem Kopf vorbeisaust. Ob sie sich alle in eine durchsichtige Kiste hineinzwingen, durch sich dann noch eine der Performerinnen hindurchfädelt. Ob sie vom Trampolin hoch geschleudert werden, um dann wie Fliegen auf eine Matte zu klatschen und gleich darauf wieder aufzuspringen. Ob sie auf einem schaukelnden Halbkreis, der bis in die Waagerechte befördert wird, alleine oder zu sechst die Balance halten. Oder ob sie auf einer ständig kreisenden Stahlleiter ihre Kunststücke in absurder Geschwindigkeit vorführen: Diese Performer/innen sind unerschrockene Artisten, die ihre Circusarena im Rahmen des Sommerfestivals in die K6 auf Kampnagel verlegt haben. Das Erstaunen und die Begeisterung des Publikums fand kaum ein Ende. Den künstlerischen Anspruch wird hier man hier wohl vergeblich suchen. Dem eigenen aber, den sich Strebs gesetzt hat, wird die Show allemal gerecht: Sie wollte ihr choreographisches Können in den Dienst der Massen stellen. Und das hat sie erfüllt: Elitär war diese Show mitnichten.

Selbstermächtigung der Frauen
Kein männlicher Gott mehr, der seinen Musen ihre Plätze zuweist sondern Frauen, die alles alleine können, zeigt die Choreografin Florentina Holzinger in ihrer Arbeit "Apollon". Ausgehend von Georg Balanchines Ballett »Apollon Musagète« erschafft sie ihre eigene Version, die nur Frauen auf der Bühne agieren lässt. Die Eindrücke prasseln in sekundenschneller Quote auf die Zuschauer ein, denn Holzinger arrangiert ihre Arbeit als Side Show-Version. Während in der Mitte über dem Luftbett zwei Frauen auf dem Bullen reiten, hämmert sich eine andere einen ca zehn Zentimeter langen Eisennagel in die Nase und zwei weitere laufen brusthüpfend auf den zwei Laufbändern, bis die Schweißtropfen rinnen.
Diese Frauen scheinen alles in sich zu vereinigen. Sie können auf einem Rodeobullen reiten. Sie können Gewichte stemmen. Sie können Schmerzen ertragen und sie können sich sogar zum Schluss gegenseitig penetrieren. Dabei scheinen sie durchaus auch Aspekte von sexistisch motiviertem Voyeurismus zu bedienen. Die Frauen sind durchgehend nackt und tanzen zwischendurch vor himmlischen Bühnenhintergrund in David-Hamilton-Manier zu harmonischen Klängen. Holzinger spielt geschickt mit fast jedem Klischee, um es gleich wieder zu konterkarieren. Das ist ein Balancieren genau auf der Kante der Vordergründigkeit, doch sie schafft es diese Balance gekonnt zu halten. Sie unterhält und hinterfragt gleichzeitig und das alles in einem Nebeneinander und mit fließendem Übergang.

Die Geschichten hinter dem Nebel
"Das Wichtigste an der Nebelmaschine ist die Geschichte dahinter." Der Schweizer Regisseur Thomas Luz zaubert mit seiner Produktion "Girl from the fog machine" eine Geschichte nach der nächsten aus seinen Nebelschwaden hervor. Und er erzählt en passant von einer sterbenden Fabrik, die unter heutigen Effizienzgesichtspunkten nicht mehr trendy genug ist.
Ein Relikt aus einer alten Zeit darf hier besichtigt werden: In der Nebelmaschinen-Fabrik arbeiten Mitarbeiter noch im Zeitalter der Entschleunigung. Dafür sind sie vollends begeistert von ihren Produkten. Man hat den Eindruck, dass sie einzig immer neue Produkte erfinden, um sich selbst eine Freude zu machen. Doch das scheint sich in letzter Zeit nicht mehr recht zu rentieren. Immer wieder muss der Chef in verschiedenen Sprachen am Telefon wiederholen: "Ich habe kein Geld mehr."
Größer und spektakulärer müsse man heute sein, erkennt der Chef. Doch indem die Mitarbeiter immer mehr Nebel erzeugen, immer größere Schwaden über die Bühne ziehen lassen, begraben sie unter ihnen auch die zarte Poesie, die sie mit ihren kleinen Wölkchen und der melancholischen Musik zuvor spielend erzeugten. Von den Werten der echten Begeisterung, dem Sinn für die kleinen Zeichen und für die liebevollen Details - davon erzählt diese Produktion, die ungeheuer poetisch daherkommt und damit in einem großen, auch lautstarken Festival für wohltuende leise Töne sorgte.
Birgit Schmalmack vom 21.8.18




Girl from the fog machine Foto: Sandra Then

Das Haus der herabfallenden Knochen, Kampnagel



Vorsichtige Annäherung der Künstler

Aus dem Rauch seien damals die Täter aufgetaucht. Nebel umwölkt auch die Bühne. In zahlreichen Kästen haben ihn die Musiker auf die Bühne gebracht. Als sie sie öffnen, entströmt ihnen weißer Rauch.
Es geht um Schuld. Schuld, die die Deutschen im Umgang mit den Menschen in Südafrika und Namibia auf sich geladen haben. Sie wurden zu rücksichtlosen skrupellosen Mördern im Zuge der kolonialen Eroberungen. Bis heute wartet diese historischen Schuld auf eine angemessene Aufarbeitung.
Die Hamburger Band Kante und das "Show Case Beat le Moi"-Mitglied Nikola Duric treffen in ihrer Produktion auf die Musiker der Band Khoi Khonnexion aus Kapstadt und Poetry Artisanin Nesinado »Khoes« Namesis aus Namibia.
Im gemeinsamen Musikmachen proben sie die Verständigung. Die energiegeladene Musik von Kante trifft auf die meditative von Khoi Khonnexion und die poetisch anklagenden Songtexte von Namesis. Es entsteht auf der Bühne ein Mosaik an Begegnungen. Das Geschichten Erzählen nimmt dabei einen großen Raum ein. In den Beträgen aus Namibia und Südafrika auch die Erinnerung an die Vorfahren. Dagegen positioniert sich der Sänger von "Kante" mit seiner wütenden Rede: "Fuck my ansisters!"
Es wird ein Abend der Langsamkeit, der Einfühlung, der Besinnung, des Einlassens auf dem Wege zu einer versuchten Vergangenheitsbewältigung. Aber in der Produktion "Das Haus der herabfallenden Knochen" geht es auch um die unterschiedlichen Annäherungsformen an die gemeinsame Vergangenheit.
Die letzte Sequenz versucht sich wieder in Versöhnlichkeit und erinnert an eine Selbsterfahrungsgruppe, bei der der Zuschauer tatsächlich nur zuschaut. Im Kreis schreiten alle Beteiligten mit dem traditionellen Bogeninstrument der Khois umeinander. So schließt diese Annäherung mit einem sehr beschaulichen Bild, das aber das Publikum eher ausschließt als auffordert.
Birgit Schmalmack vom 30.8.18



Autobiography, Kampnagel


Gesamtkunstwerk

Choreograph Wayne McGregor hat seine eigene DNA analysieren lassen. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wirft er für "Autobiography" Schlaglichter auf die eigene Geschichte. Die 23 Szenen werden für jeden Abend in einer neuen Reihenfolge zusammengestellt. Ob man nun in ihnen autobiographische Züge erkennen mag oder nicht - dieser Abend wird zu einem überwältigendem Gesamtkunstwerk aus Musik, Tanz und Licht.
Jede der Szenen entwickelt eine ganz eigene Stimmung. In ersten scheint der Tänzer wie eine von der Strömung bewegte Alge in einem Meer zu schwimmen. Mit fließenden Bewegungen windet er sich durch eine Umgebung, die zugleich einladend und undurchdringlich zu sein scheint. Der Tänzer wehrt ab, greift zu, dreht sich weg, duckt sich und richtet sich wieder auf. Ein Einzelner in einem Meer der Möglichkeiten.
Gleich in der nächsten Szene erklingen Geigen und eine fast anmutige, vom Ballett inspirierte Dreierformation aus einem Mann zwischen zwei Frauen ist auf der Bühne zu sehen. Später scheinen unter dem Titel "Lucent" zwei Männer in Trance miteinander zu verschmelzen. In einen weiteren Szene trennt das Licht die Bühne in zwei Hälften. In der dunklen ist das Ensemble in einem Fast-Stillstand gefangen. Sie bewegen sich nur noch in gleichförmiger extremer Slow-Motion. Auch auf der hellen Seite herrscht Unfreiheit. Hier bestimmt immer einer der beiden Männer, was der andere bewegen darf. Er fixiert einen Arm und stößt dann Körperteile seines Gegenübers an, um sie in eine neue Position zu befördern. In einer der nächsten Szenen sprüht das Ensemble vor enervierender Energie. Die Bewegungen sind schnell und flirrend wie die Musik. Die Lichter blitzen auf und beleuchten immer wieder neue Areale.
Die Musik von Jlin ist die Grundlage der Choreographien. Die Elektro-Sounds der Komponistin sind so vielfältig inspiriert und zusammen gesampelt wie das von McGregor verwendeteTanzrepertoire. Doch ohne die Licht- und Bühneninstallation von Lucy Carter und Ben Cullen Williams wäre der Abend nicht so eindrucksvoll geworden. Manchmal übernimmt das Licht sogar die Hauptrolle. Dann tauchen die Tänzer unter einem scharfen Scheinwerferstrahl im Gegenlicht nur für Momente aus dem Dunklen ins Sichtbare. Die Metallkonstruktion, die in immer neuen Positionen über der Bühne schwebt, wird so angestrahlt, das es völlig veränderten Bühnenatmosphären erzeugen kann. Als die Metallpyramiden für "Sleeping" bis kurz über den Fußboden herunterfahren und in roten, gelbem und grünen Licht angestrahlt werden, scheinen sie die Tänzer fast aufzuspießen. Sie wälzen sich unter den Spitzen wie unter einem Alptraum hin und her und versuchen vergeblich dem Gefühl des Gefangenseins zu entkommen.
Der Abend sprüht vor Kreativität, Schönheit und Intelligenz. Er erzählt vom Reichtum des Lebens. Man wird hineingerissen in ein Land der Fantasie, das kein Ende zu kennen scheint und bei der jeder etwas anderes sehen und bei jeder Aufführung etwas Neues entdecken wird. Man meint selten so gute Tänzer auf der Bühne gesehen zu haben. Hier sitzt jede Bewegung bis ins die winzige Krümmung der Finger oder der Zehenspitzen. Ob sich die einzelnen Tänzer/innen alleine präsentieren oder die Körper sich in den Gruppenszenen umeinander winden, immer besitzt die Choreographie einen Mix aus Grazie und Witz, der überrascht und begeistert.
Birgit Schmalmack vom 30.8.18



(La) Horde: To Da Bone, Kampnagel



Vom Einzelkämpfer zur Tanzgang

Jeder von ihnen hat jahrelang alleine getanzt. Angeregt durch das Internet haben die Autodidakten die Zeugnisse ihres Könnens auf Youtube wiederum ins Netz gestellt. In halbminütigen Clips zeigten sie der ganzen Welt, was sie draufhaben. So fand sie auch das französische Medienkunst-Kollektiv aus Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel und castete sie für ihr Projekt "To da Bone". (La) Horde transformiert die kurzen Einzelshows in eine Abend füllende Gemeinschaftschoreographie und die digitale Film- in die live vorgetragene Bühnen-Form.
Doch erstmal betritt jede/r einzelne zunächst allein die Bühne und stellt sich auf seinen Platz. Schnell wird klar; diese Leute sind gewohnt sich durchzusetzen. Die Einzelkämpfer formieren sich zu einer Truppe. Endlich haben sie ihre Gruppenstärke erreicht und ihr gemeinsamer Auftritt als Tanzgang kann beginnen. Ihre Power speist aus der Power jedes Einzelnen. Zusammen kann uns keiner stoppen, lautet ihre unmissverständliche Botschaft. Ihr Style kommt aus den Vorstädten und transportiert stolz eine aggressive Grundnote. Die geballte Faust gehört dazu.
Die Show, die La Horde arrangiert hat, zeigt beides: den Einzelnen und die Gruppe. Tänzer aus Kanada, Ungarn, Frankreich, Belgien und Polen sind hier auf der Bühne versammelt. "Guys, stop it," ruft eines der Mädchen, als alle durcheinander reden. Euch versteht eh keiner. Flugs wird ein Übersetzer aus dem Zuschauerraum organisiert, der über Facebook gefundene wurde, obwohl er kein Facebookkonto hat, und die Verständigung klappt ab sofort. Jeder darf von seinem Werdegang erzählen und etwas vorführen. Jumpstyle heiße ihr Tanzstil, erklären sie den noch unwissenden Zuschauern. Sie führen die verschiedenen Entwicklungsstufen vor. In atemberaubender Geschwindigkeiten drehen sie sich um sich selbst, springen dabei nach vorn und nach hinten, über ihre untergeschlagenen Unterschenkel, berühren mit einer Hand ihre Zehenspitzen und kommen nie aus dem Takt, den die harten Elektro-Beats vorgeben. Das Mittel eines Tanzbattles wird dabei nur zitiert, aber nicht benutzt. Es geht nicht um ein Gegeneinader sondern um die gegenseitige Anregung. Zusammen entfalten sie eine Kraft, die mitreißt.
Doch schade, als zum Schluss der Beat immer fordernder, der Nebel immer dichter wird und die Truppe scheinbar zum nächsten Sprung ansetzen will, geht das Licht aus und die Show ist zu Ende. La Horde will das Anregungspotential eines ausgeweiteten Videoclips eben nicht überstrapazieren. Die Entwicklung auf der Straße und im Netz soll schließlich weitergehen.
Birgit Schmalmack vom 30.8.18




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Walking large, Kampnagel
Die bitteren Tränen, Theaterfestival