Wunder geschehen

„Hier ist mein Revier“, erkennt Richard und fühlt doch, dass er nicht mehr hier zuhause ist. Nach zwölf Jahren Kriegsgefangenschaft ist hier nichts mehr so, wie er es in Erinnerung hatte. Er würde so gerne den starken Ehemann und Vater für seine Frau und seine drei Kinder sein, doch er scheint überflüssig. Unter Tage lässt das Geknatter die alten Kriegstraumata wieder hochkommen. Oben hat seine Frau Christa ihre Frau gestanden und ihre Kinder mit einer Ruhrpotteckkneipe über Wasser gehalten. Richard versteht nichts mehr. Warum darf die Tochter abends mit Soldaten tanzen gehen? Warum darf der große Sohn Negermusik in einer Rock `n Roll-Band machen? Für den kleinen Matthias war sein Vater bisher nur ein Bild in einem Rahmen an der Wand. Er schwärmt statt für deutsche Kriegshelden für Rot-Weiß und ganz besonders für seinen Star „Boss“, dem er die Tasche tragen darf. In seiner Hilflosigkeit greift Richard zu den einzigen Mitteln, die er kennt: Zucht und Gehorsam. Ständiger Streit spaltet bald die Familie.
Doch Wunder geschehen immer wieder, daran glaubt nicht nur seine Frau Christa unermüdlich. Es ist 1954 und die Fußballweltmeisterschaft findet in der Schweiz statt und auch Sepp Herberger, der Trainer der Nationalelf, glaubt an seine Jungs. Boss wurde auserwählt nach Bern mitzufahren. Wie dieser Glaube sowohl in Essen wie in Bern schließlich mit einem doppelten Happy End belohnt wird und wie die Erzählstränge auf der Bühne im rasanten Kulissenwechsel verknüpft werden, macht den Zauber dieses geschichtsträchtigen Musicals aus. Ständig schweben Hausteile, Kaninchenställe, Fußballtribünen, Kneipenwände oder ganze Hauptbahnhöfe auf die Bühne herunter, schieben sich wie von Zauberhand zur Seite und machen Platz für Berner Seekulissen und schließlich ein komplettes Fußballstadion. Dass dann die entscheidenden Minuten des Endspiels um den Titel gegen die Ungarn in der Senkrechten vorgeführt werden, ist nur eines von vielen Highlights. Dann hängen die Spieler an Seilen von der Decke und schießen die animierten Bälle dreimal ins gegnerische Tor. Das ist Spannung pur, auch wenn man kein Fußballfan ist.
Dieses Musical glänzt weniger durch seine grandiosen Hits, die sich in die Gehörgänge winden, als vielmehr durch seinen Inhalt. Bei ihm verbindet sich deutsche (nicht nur Fußball-) Geschichte mit dem Alltagsleben von Otto-Normalverbraucher. So macht Geschichtsunterricht der ganzen Familie Spaß.
Birgit Schmalmack vom 4.1.15




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Theater im Hamburger Hafen