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Nachtkritik 
Abendblatt 
 

Die Ratten


Realität abbilden?

Kann Theater die Wirklichkeit abbilden? Entspricht diese, wenn sie durch die Theatermaschinerie gedreht worden ist, noch der Realität? Der feine Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus war dem Theaterdichter Gerhard Hauptmann stets bewusst.
Dem folgt Regisseurin Karin Henkel. Sie macht in ihrer Inszenierung von „Die Ratten“ gleich von Anfang an klar, dass ihre Schauspieler nur die Wirklichkeit konstruieren. Da sie praktischerweise in einem Theaterfundus arbeiten und leben, können sie sich gleich von den Kleiderstangen die passenden Kostüme aussuchen. Auch das Bühnenbild ist symbolträchtig: ein dunkler, fensterloser, schwarzer Bühnenkasten, durch dessen Klappen kein Licht sondern höchstens Endzeitstimmungsrauch hervorquillt. Hier hausen die Menschen wie Ratten.
Henriette (Lina Beckmann) braucht dringend ein Kind. Ihr Mann Paul (Bernd Grawert), der nach dem Tod ihres ersten Sohnes ständig auf Montage in Hamburg ist, denkt schon ans Auswandern nach Amerika. Da kommt die ihr die schwangere ledige Pauline, die von ihrem Geliebten sitzengelassen worden ist, gerade recht. Henriette redet sich eine Win-Win.-Situation ein und drängt Pauline zur Übergabe des Kindes, das sie als ihr eigenes ausgibt. Zunächst scheint ihr klug eingefädelter Plan aufzugehen: Paul kommt als überglücklicher und stolzer Familienvater nach Berlin zurück. Doch dann taucht plötzlich die leibliche Mutter auf und will ihr Kind sehen. Henriette sieht ihr neu gewonnenes Lebensglück zerrinnen und ruft ihren kleinkriminellen Bruder auf den Plan, der sich auf seine Art des Problems entledigt. Sie muss sich der Frage stellen: Hat sie als brave, hilfsbereite „Mutter John“, die für alle im Haus stets eine Stulle oder einen Platz zum Ausruhen hatte, die Schuld einer Mörderin auf sich geladen?
Henkel spiegelt diese Prekariats-Tragödie in der Metaebene der theatertheoretischen Diskussionen des Theaterfundusbesitzers und ehemaligen Theaterleiters Hassenreuter (Yorck Dippe) mit seinem lispelnden Möchtegern-Schauspielschüler Eric Spitta (Jan-Peter Kampwirth). Dieser sieht seinen Lebensauftrag darin, statt Shakespeare den Alltag auf der Bühne darzustellen und scheitert kläglich daran, da er als Theologiestudent aus gutem Hause über wenig einschlägiges Vorwissen verfügt. Auch da kann Hauptmann helfen: Im Laufe des Stückes verhilft er Spitta zu kathartischen Erfahrungen von Armut, Liebeskummer, Obdachlosigkeit und Leid.
Karin Henkels Inszenierung funktioniert auch deswegen so gut, weil Lina Beckmann die Mutter John spielt. Sie ist die Idealbesetzung für die bodenständige, zupackende, sympathische Frau, die sich entschlossen hat, für ihren Teil am Kuchen bedingungslos in den Kampf zu ziehen und dabei alles aufs Spiel zu setzen, weil sie nichts zu verlieren hat. Sie verkörpert sie so bedingungslos und uneitel, dass ihr Spiel auf der Bühne tatsächlich zur "Wirklichkeit" zu werden scheint.
Henkel hat mit ihrer Kölner Produktion nun auch dem Hamburger Schauspielhaus einen prallen Theaterabend beschert, der auf allen Ebenen anspricht.
Birgit Schmalmack vom 15.10.14