Es hört nie auf

And now Hanau, Thalia Foto: Bettina Stoess


Es handelt sich um die Tat eines Einzelnen, das ist stets die Reaktion, wenn wieder einmal eine Mordtat aus rassistischen Motiven geschieht. In dem akribisch recherchierten Dokumentartheater von Tuğsal Moğul "And now Hanau" wird genau dieser These entschieden widersprochen. Aber nicht als bloße Behauptung, sondern mit einer schier unendlich langen Liste an Fakten. Sekundengenau wird der Tathergang an dem Abend in Hanau rekonstruiert, als ein Mann neun Menschen erschoss. Hier werden nicht nur "Say their names", ihre Namen genannt, sondern ihre Geschichten erzählt. Doch nicht auf einer herkömmlichen Theaterbühne, sondern an einem Ort der Aufklärung und der Entscheidung, beim Gastspiel des Theaters Münster im Altonaer Rathaussaal. Während die Zuschauer:innen hereingelassen werden, bauen die vier Schauspieler:innen die Bühne auf. Ein paar Platten, ein paar Stangen tragen sie durch die Zuschauerreihen herein und legen sie an den dafür vorgesehenen Platz. Dann werden die Scheinwerfer nach oben gekurbelt und der Bildschirm, der rechts auf der Bühne steht, angetippt. "Sie werden hier nichts Neues zu sehen und zu hören bekommen", verspricht einer der Schauspieler. Alle Fakten könnten bekannt sein. Und dennoch: In dieser überwältigenden, erdrückenden und komprimierten Fülle wird sie kaum jemand verfolgt haben. Warum der Täter, dessen psychiatrische Probleme bekannt waren, einen Waffenschein erhielt, warum der Notruf in der Polizeidienststelle nicht ausreichend besetzt war, warum der Notausgang in der Bar verschlossen war, warum die Angehörigen stundenlang im Unklaren gelassen wurden, warum das Haus des Täters nach der Tat nicht von der Polizei überwacht wurde, warum die Angehörigen wie Tatverdächtige behandelt wurden.

In vielen Einzelrekonstruktionen, die Schlag auf Schlag auf der Bühne nachgestellt werden, ergibt sich ein Muster. Der Vater des aus Rumänien stammenden Vili Viorel Păun hört, wie die Polizisten über ihn sagen: "Das ist der Vater von dem Zigeuner mit Zivilcourage. "Ihre Opferbeschreibung von Hamza Kurtović besagte, dass er südländischer Herkunft mit gezupften Augenbrauen sei, obwohl der Mann blond und blauäugig ist. Das Auto, in dem eine Opferfamilie stundenlang vor dem Tatort wartete, wurde von einem SEK-Kommando umstellt, alle Insassen wurden mit der Waffe im Anschlag eingeschüchtert, auch nachdem ein anderer Polizist schon aufgeklärt hatte, um wen es sich hier handelte. Die Opferfamilien mussten bis zum Morgengrauen warten und erhielten keinerlei Informationen über den Zustand ihrer Angehörigen, obwohl die Polizei die Leichen schon lange identifiziert hatte. Alle Ermittlungsverfahren bezüglich des Versagens der Behörden wurden eingestellt. Ob es sich um die verschlossene Notausgangstür, die nicht erreichbare 110 oder die nicht übermittelte Adresse des Täters handelte. Alle hätten höchstwahrscheinlich zu weniger Opfern geführt, doch die Anwälte der Behörden bestreiten genau das. Die Opfer hätten es sowieso nicht in neun Sekunden zur Nottür geschafft, daher wäre es egal gewesen, ob sie verschlossen gewesen sei oder nicht. Auf der Bühne zählt Tim Weckenbrock derweil die neun Sekunden runter, die anderen Schauspieler:innen Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin und Regina Leenders rennen aus dem Sitzungssaal des Rathauses in den Vorraum. Als die neun Sekunden vorbei sind, sind alle draußen.

Eigentlich wird auch schon so deutlich, dass es sich hier klar um behördliches Versagen handelt. Doch dann werden auf der Bühne die Ermittlungen zu den rechten Chatgruppen in der hessischen Polizei in Erinnerungen gerufen und es kommt raus: 13 der 19 Beamten, die in Hanau an den Ermittlungen beteiligt waren, waren Mitglieder in diesen Chatgruppen, in denen offen rassistische Inhalte geteilt wurden.

Am Ende der gut eineinhalb Stunden absolute Stille und bedrücktes Schweigen im Kollegiensaal des Rathauses. Als die Schauspieler:innen auf die Bühne kommen, stehen spontan alle Zuschauer:innen auf und erweisen damit nicht nur ihnen die Ehre sondern auch die neun ermordeten Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Birgit Schmalmack, 18.11.23