Alles gescheitert

„Die Liebe ist gescheitert, der Kommunismus ist gescheitert, der Kapitalismus ist gescheitert, die Familie ist gescheitert.“ Die Bilanz der Tochter (Meryem Öz) ist ernüchternd. Dabei hatte der Vater (Bernd Grawert) doch alles dafür getan, damit sie es einmal besser hat. Er ist mit seiner Familie aus der Sowjetunion ausgewandert, in der fälschlichen Erwartung, dort als Wissenschaftler arbeiteten zu können. Auch als sich das als Illusion herausstellte, blieb er dort und verdiente sein Geld mit zwielichtigen und gefährlichen Autoschieberungen über die Grenze.
Oberflächlich hatten seine Aufstiegspläne für seine Tochter Erfolg: Sie schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit, doch die Zeit, die sie mit ihrer Therapeutin verbringt ist fast genau so lang wie die am Schreibtisch. Sie fühlt sich entwurzelt und macht dafür hauptsächlich ihren Vater verantwortlich. Eine Familie, die ihr Halt und Orientierung gegeben hätte, kann sie nicht erkennen.
Als er eines Tages bei ihr in Paris anklingelt, er wäre mal wieder für eine Autoüberführung in der Stadt, fragt sie kurzerhand, ob sie mit ihm zurück nach Moskau fahren könnte. Sie wolle mit ihrer Großmutter sprechen, vielleicht könne die ihr ein paar Puzzlestückchen zeigen.
So sitzt sie fünf Tage mit ihrem Vater im Auto und beide müssen sich zwangsläufig miteinander beschäftigen. Die gegenseitigen Vorwürfe bleiben nicht aus, besonders die Tochter tut sich keinen Zwang an. Sie lässt allen ihrem Frust freien Lauf. Der Vater verteidigt sich nach Kräften. Je weiter sie nach Osten kommen, desto mehr werden ihre Erzählungen von russischen Wörtern, Kleidungsstücken und Melodien durchsetzt. Die Weltraummetaphern, die die Autorin Marina Skalova in das Stück einbaut, erinnern einerseits an die hochtrabenden Vorhaben der Sowjetunion, in der Weltraumforschung ganz oben mitzuspielen, und andererseits an die Anziehung und Aufsplitterung, die in Familien- und Liebesbeziehungen für die unterschiedlichen Verstrickungen sorgen.
Die Jungregisseurin Berfin Orman stellt für ihre Inszenierung ein vierteiliges Klettergerüst in die Thalia-Garage, das aus alten DDR-Zeiten stammen könnte. Immer wieder wird es zu neuen Konstellationen zusammen geschoben und Vater und Tochter nutzen es mal als Schlafstatt, mal als Autositz oder mal als Essplatz. Wütend bis unprätentiös spüren Vater und Tochter ihren Leben und ihrer Beziehung nach. Sie werden sich bis zum Schluss ihrer Reise, die ganz unerwartet und plötzlich ihr Ende findet, nur unwesentlich angenähert haben. Ein Happy End gibt es hier nicht. Aber die Zuschauer:innen sind um etliche Einblicke in die schwierige Prozesse der Migration reicher, die die Trennlinien zwischen die Generationen noch schärfer zeichnet als unter gewöhnlichen Umständen.
Birgit Schmalmack vom 6.4.23