Die Verlobung in St. Domingo. Ein Widerspruch

Die Verlobung in St. Domingo. Ein Widerspruch

https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/die-verlobung-in-st-domingo-ein-widerspruch
Sebastian Nübling
Musiker Lars Wittershagen

Hinterfragung von Projektionen

Kleists Novelle " Die Verlobung in St. Domingo " handelt von einer unmöglicher Liebe zwischen Weiß und Schwarz, und zwar auf Haiti in den Zeiten des Aufstandes gegen die franzosischen Kolonialherren. Der Autor Necati Öziri wagt einen Gegenentwurf. Er forscht in seinem "Widerspruch" zu Kleist den Möglichkeiten der dialektischen Sichtweise nach. Dass daraus kein intellektuelles Unterfangen wird, dafür sorgt Regisseur Sebastian Nübling. Er spielt in seiner Uraufführung so geschickt mit dem Text, dass sich immer neue Denkebenen eröffnen. Sein diverses Ensemble ist dabei die Grundlage, die diesen Ansatz erst möglich macht. Hier mischen sich die verschiedenen Schattierungen der Hautfarben ebenso wie die Sprachen: Arabisch, Englisch, Schweizerdeutsch und Hochdeutsch fließen ineinander.

Nach dem Aufstand der Schwarzen gegen die Franzosen sucht der Schweizer Offizier Gustav von der Ried (Dominic Hartmann) Zuflucht im Haus von Toni, /Kenda Hmeidan), der Tochter der Mulattin Babekan (Maryam Abu Khaled). Gustav und Toni verlieben sich ineinander. Nichts ahnend, dass Tonis Stiefvater ausgerechnet der neue Anführer der Aufständischen Bréda (Falilou Seck) ist, der jeden Weißen, der sich noch auf der Insel befindet, umbringen will. Noch mehr sogar, er hat jeden Schwarzen, der sich an dieser Tötungsaktion nicht beteiligt, ebenfalls zum Tode verurteilt. Breda sieht die Todesstrafe für jeden Weißen als einzig mögliches Mittel, um dem jahrzehntelangen Terror durch die Weißen zu beenden. Während Kleist in seiner Novelle deutlich macht, dass er dieser Ansatz für moralisch verwerflich hält, will Öziri sich auf die Seite der Opfer stellen und sie verstehen lernen. So lässt er Breda von seinen Erfahrungen auf den Baumwollfeldern unter der Knote der Sklaventreiber berichten. Er schlüpft in die Rolle von Toni, die ihrem eigenen Weg in der Gemengelage zwischen Opfern und Tätern, zwischen Unrecht und Gerechtigkeit, zwischen Rache und Neuanfang sucht. Er zeigt die Unbedingtheit ihrer Mutter, die gegen die Unterdrückung durch die Weißen aufbegehrt und sich dann in einer Ehe wieder findet, in der der Ehemann absoluten Gehorsam einfordert.
Geschickt zeigt Nübling die Handlungsebene der Kleistnovelle als Schattenspiel und macht damit die Projektion der Weißen beim Blick auf die Schwarzen im doppelten Sinne klar. Gleichzeitig gibt er den Schauspielern großen Raum zur Entfaltung ihrer Sichtweisen, wenn sie aus der kleine Schattentheaterbühne direkt vor die Zuschauer treten. der Soundtrack von Lars Wittershagen untermalt ihre Bewegungen mit sanft treibenden elektronischen Beats, die zugleich anfeuern und einlullen.
Am Schluss wird die Verfassung einer „Schwarzen Republik“ vorgetragen, die „völlig unabhängig von der Farbe ihrer Haut“ alle zu Schwarzen erklärt. Es ist gleichzeitig eine Verfassung, die sich konsequent zu den Menschenrechten bekennt. Es ist die tatsächlich damals ausgerufene Verfassung von Haiti. Das sei „Kein Ergebnis, höchstens ein Anfang.“
Dieses Gastspiel zeigt: Am Maxim Gorki Theater gelingt es, die weiße Vorherrschaft auf den Stadttheaterbühnen nicht nur theoretisch sondern auch konsequent praktisch zu hinterfragen. Die Zusammenarbeit dieses Künstlerteams aus Autor, Regisseur, Musiker, Bühnenbildner und Darsteller/Innen macht diese Inszenierung zu tollen Arbeit, die zeigt, wie ein heutigen Umgang mit Klassikern diese in die Jetztzeit katapultieren kann. Das ist junges, spritziges, zeitgemäßes und anspruchvolles Theater, dass auch in Hamburg neue Zuschauerschichten ins Theater ziehen könnte.
Birgit Schmalmack vom 13.2.20