Orest in Mossul, Thalia



Lehre aus der Antike?

Ist ein friedlicher Neuanfang nach einem jahrelangen Bürgerkrieg möglich? Wie geht ein Volk mit den Tätern und dessen Angehörigen um? Ist der Wunsch nach Rache so stark, dass sich andere Wege verschließen? Diesen Fragen müssen sich die Bewohner von Mossul stellen. Nach der Befreiung 2017 von der Terrorherrschaft des IS sind nicht nur große Teile ihrer Stadt dem Erdboden gleichgemacht, sondern sind sie auch mit Fragen nach Gerechtigkeit für die Täter und Opfer konfrontiert. Rache, Bestrafung oder Vergebung?
Es gibt ein Theaterstück aus der Antike, das sich dieser Verstrickung in einen Teufelskreis der Gewalt widmet und am Schluss eine mögliche Lösung aufscheinen lässt: Die "Orestie" von Aischylos. Nachdem Agamemnon seine Tochter für sein Kriegsglück geopfert hat, tötet die Mutter nach seiner Rückkehr ihn. Ihr Sohn Orest wiederum bringt aus Rache seine Mutter um.
Milo Rau hat sich mit einem Teil seines Ensembles vom NT Gent nach Mossul aufgemacht und mit dortigen Schauspielstudenten das Stück direkt in Mossul inszeniert. Mit ihnen fragen sie sich: Wie kann es nach dieser Tragödie in der einstigen Kulturstadt Mossul, dem früheren Ninive, weitergehen? Auf der Bühne des Thalia Theaters wird die Handlung einerseits live auf der Bühne und andererseits per Filmeinspielung an den Orten im zerstörten Mossul gezeigt. Immer wieder treten die Schauspieler an die Bühnerampe und berichten von ihrer Reise in die kriegsversehrte alte Stadt. Zwei arabisch sprachige, belgische Schauspieler unterstützen dabei die niederländisch sprechenden Darsteller aus dem Ensemble.
Wie Agamemnon sich mit seinen Truppen nach Troja aufmacht, das er später zerstört verlässt, so machen sich die Schauspieler nach Mossul auf. Das ist auch Milo Rau und seinem Team klar. Sie kommen aus dem Westen und haben einen vorgeprägten Blick auf das Geschehen. Auch wenn Rau sich für seine neue Intendanz in Gent vorgenommen hat, kein in sich selbst schmorendes Subventionstheater zu gestalten, so weiß er, dass auch er nicht frei von der komfortablen Situation eines einfliegenden Zuschauers ist. Wie politisch kann so ein Theaterstück sein?
Kurz nach ihrem Abflug wurde auf einen ihrer Drehorte ein Anschlag verübt. Acht Menschen starben. Einer der Schauspieler sagt dazu: "Ein Glück waren keine unserer neuen Freunde darunter." So schnell können Fremde zu Freunden werden. Genau das ist aber für die Theaterzuschauer schwieriger: Rau gibt kaum Möglichkeiten zum Einfühlen in die Geschichte um Orest in Mossul. Zu künstlich wirken die Inszenierungen sowohl im Film wie auf der Bühne. Stets wahren sie die Distanz. So nutzt Rau die Tragödie eher als Folie für den Blick von außen als zur Empathiesteigerung. Rau beschränkt sich darauf, die Stadt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Er lässt die Bilder einer Stadt sprechen, die bis zur Befreiung in aller Munde war und die danach kaum noch in den Medien vorkommt. Deren Probleme aber immer noch virulent sind. Er hütet sich vor Schuldzuweisungen, vor Ratschlägen oder vor Lösungen. Das mag man seiner Arbeit ankreiden oder es gerade für ihren Verdienst halten.
Birgit Schmalmack vom 11.2.20