Erschlagt die Armen
Mitarbeiter in der Lügenfabrik
In der gekachelten Abschiebehalle an einem europäischen Flughafen kriechen Maskenwesen in halbdurchsichtigen Anzügen aus einem Loch im Fußboden. Wenn sie die Masken abnehmen, kommen akkurate Pagenfrisuren zum Vorschein und die Masken werden in den schicken Handtäschchen versteckt. Dolmetscher sollen die Hängebrücke zwischen zwei Parteien sein. Auf der einen Seite stehen die Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen wollen und auf der anderen die Beamten, die über diesen entscheiden sollen. Die Dolmetscher sind der Bindestrich zwischen beiden. Sie sind in der Regel Muttersprachler, die für die Flüchtlinge einen möglichen Verbündeten symbolisieren. Doch eigentlich sind sie den einheimischen Behörden verpflichtet, die sie eingestellt haben.
Die Flüchtlinge verstecken sich hinter ihren Masken und müssen sich doch nackig machen. Nichts bleibt verborgen. Wie kann da die Würde erhalten bleiben? Ihre Wünsche nach Verbesserung ihrer Lebensumstände zählen vor der Asylbehörde nichts. Nur Verfolgung, Tod, Krieg und Vergewaltigung zählen hier. Wer aus Indien oder Bangladesch kommt, kann diese Gründe kaum liefern, also bauen sie das Gewünschte in ihre Geschichten ein. Und verdonnert den Dolmetscher zum Mitlügner, zum Mitarbeiter in der Lügenfabrik, die die Behörde hier errichtet hat.
Die fünf Dolmetscher (Alicia Aumüller, Sandra Flubacher, Christina Geiße, Matthias Leja, Oliver Allison), die in der Abschiebehalle ihren Dienst tun, nehmen alle Rollen gleichzeitig ein. Mal sind sie Beamter, dann wieder Flüchtling und bald darauf Übersetzer.
Der Titel des Romans der bengalisch-französischen Autorin Shumona Sinha, der die Vorlage für den Theaterabend von Anne Lenk gegeben hat, ist von Charles Baudelaire entliehen. "Schlagt die Armen", bis sie sich wehren. Gebt ihnen die Würde zurück, indem ihr ihnen wieder eine aktive Rolle zubilligt. Die Dolmetscherin, von der die Autorin in ihrem Erstling erzählt, wird tatsächlich zum Schluss die Seiten des Verhörtisches wechseln. Sie hat einen Flüchtling in der Metro eine Flasche auf den Kopf geschlagen, weil er ihr zu nahe rückte. Wie bei Regisseurin Anne Lenk verschwimmen die Grenzen zwischen Täter und Opfer.
Doch während dies im Roman emotional aufwühlend geschildert wird, wahrt Lenk im Thalia in der Gaußstraße in ihrer Inszenierung stets die kühle Distanz. So kommt nur in der vor geschalteten Viertelstunde im Foyer, in der scheinbar dokumentarisches Filmmaterial von Flüchtlingsanhörungen auf zwei Leinwänden gezeigt wird, eine Nähe zu den Flüchtlingsgeschichten auf. Da die Romanvorlage aber nicht ohne Brisanz ist, weil sie alle Flüchtlinge der Lüge bezichtigt, birgt diese distanzierte unterkühlte Betrachtung die Gefahr der undifferenzierten Verallgemeinerung. Einfühlung wird nicht einmal in die besondere Rolle der Dolmetscher möglich. So lässt einen dieser Abend trotz der hervorragenden schauspielerischen und künstlerischen Darstellung inhaltlich unbefriedigt zurück.
Birgit Schmalmack vom 19.9.16