Hier war Berlin


Plötzlich mittendrin in einer Wüste. Nur Sand und kleine Felsen sind zu erblicken. Die 360 Grad Perspektive umschließt die Zuschauer*innen, nachdem sie die VR Brillen aufgesetzt haben. "Hier war Berlin", verrät die Stimme aus dem Off.. "Sei im Moment, vergiss Vergangenheit und Zukunft!" Zeit ist nur noch ein Raum, der zum Spekulieren einlädt. Er wird zum Platz der unendlichen Möglichkeiten. Doch was werden wir anfangen mit diesen Möglichkeiten?
Sicher, es ist besser zu leben als zu sterben. Doch wollen wir wirklich 500 Jahre alt werden? Die Lebensbedingungen erscheinen eher begrenzend als einladend. Die Zuschauer*in sitzt jetzt virtuell in einer engen Felsenhöhle. Nur ein kleiner Sonnenstrahl erhellt mittlerweile die Perspektive.
Die betörende Stimme verrät, wie die Zukunft aussehen wird. Alle zehn Jahre werden die Menschen generalüberholt. Nur ein Drittel der Menschheit wird noch am Leben sein. Denn Überleben kostet Geld. Google Goggels sind bei jedem implantiert. Die Tiere sind ausgestorben und nur noch im Archiv zu betrachten. Parchim liegt am Meer und Hamburg unter dem Meeresspiegel. Ausflüge unternimmt man nur noch virtuell.
Ein Video des Aktivisten George Carlin kommen ins Bild des Wüstenpanoramas. Seine Worte fordern auf: "Leave Nature alone. I am tired of Saving the planet. It is nothing wrong with the planet, but the people are fucked."
Der Mensch könnte so viel, doch er handelt nur im Eigeninteresse. Derweil scheint das Gefährt, auf dessen Dach sich die Zuschauer*in nun befindet, durch die Lüfte zu sausen. Mitten hinein in den unendlichen blauen Himmel der Möglichkeiten. Möglich machen auf Teufel komm raus, das ist das Motto der Menschen, die eigentlich alles könnten, aber dennoch so wenig hinkriegen.
Der Kurzfilm in 360° von Alisa Tretau, Theresa Reiwer, Anne Brammen und Kenji Tanaka ist ein Projekt, das tatsächlich in mehrfacher die Perspektive erweitert. Zu einem lotet es die Möglichkeiten des Shutdowns auf der Suche nach neuen Performance-Formen gekonnt aus. Inhaltlich eröffnet es den Vorstellungsraum auf verschiedenen Ebenen. Während man in der Abrissbaustelle des Haus der Statistik sitzt, schaut man in die Wüste. Was auch als Metapher für die Situation auf den Immobilienmarkt Berlins und damit die Beschränkung der künstlerischen Freiräume gesehen werden kann. Doch es geht um mehr. Die Wüste steht nicht nur für Berlin sondern für die Erde. Denn angesichts der Aufheizung des Erdklimas muss man sich nicht um die Natur Sorgen machen, sondern um die menschliche Spezies. Die Natur wird die Katastrophen, die der Mensch anrichtet, überleben. Doch um welchen Preis wird das Überleben als "homo goggles" noch möglich sein? Das macht dieser Film ohne den Zeigefinger zu erheben, indem er in die Zukunft per VR hineinversetzt, tatsächlich fast real erlebbar.
Birgit Schmalmack vom 15.7.20




Wüste Zukunft Ballhaus Ost


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