Wogendes Postulat für das Recht auf individuelle S
Man bekommt einen Programmzettel in die Hand gedrückt. Darauf stünde alles Wissenswerte, um "The Romeo" zu verstehen, bekommt man zu hören. Natürlich eine bewusste Irreführung. Denn anders als der eng beschriebene Zettel verrät, ist dieser angeblich historische Gesellschaftstanz namens „Romeo“ eine reine Erfindung des Choreographen Trajal Harrell. Er dient ihm nun dazu, einen Tanz zu behaupten und damit zu kreieren, der jenseits aller Altersgruppen, Genderzuschreibungen, Körperformen und Hautfarben eine gemeinsame Grundlage der Begegnung schafft.
So wogen die Tänzer:innen durch eine Eingangsschleuse aus Ziergittern auf die Bühne. Auf Zehenspitzen, in sanften Wellen, die sich vom Becken aufwärts durch ihren Körper bewegen, schieben sie sich hintereinander wellenartig über die Bühne. Langsam sind ihre Bewegungen, vorsichtig und zart. Sie sind auf sich konzentriert, ganz sorgsam darauf bedacht, mit ihrem Körper im Einklang zu sein. Ihre Bewegungen kennen wenig Abwechselung, sie gleichen einem immer wiederkehrenden Ritual, das sorgsam einstudiert Platz für die Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung für sich und den anderen übrig lässt. Doch eher in der Hinsicht, dem anderen seinen Raum zu lassen, ihm nicht zu nahe zu kommen, sorgsam jedem seinen Platz zu geben. Nur in einer Szene ergeben sich Begegnungen mit einem anderen Körper auf der Bühne.
Der Tanzstil ist stark vom Voguing inspiriert. Konsequenter Weise ist dieser Abend dann auch weniger ein Tanzereignis als vielmehr eine Modenschau, bei der Crossdressing eher die Regel als die Ausnahme ist. Über hundert Outfits präsentieren die Tänzer:innen in Cat-Walk-Manier. Sie stolzieren auf Zehenspitzen, den einen Fuß schräg vor den anderen setzend, die Hüfte stets im betonten Schwung, über die Bühne und zeigen, was die Kreativität und der riesige Kostümfundus des Choreographen hergeben. In einfallsreichen Kombinationen werden hier neue Looks im Minutentakt kreiert. Traditionelle Kleider werden mit Streetware kombiniert, drei Oberhemden zu einem weiten Oberteil zusammengeknöpft, Kleider so weit nach oben gezogen, dass ihre Ärmel zu einem Kopftuch gebunden werden können. Geschlecht, Figur, Alter spielen dabei keine Rolle. Jeder darf sich so kleiden, wie er oder sie möchte. Nur nichts von der Stange ist hier erwünscht.
Als die Tänzer:innen in einer Szene ihrer schillernden Outfits beraubt werden, stehen sie anschließend in schwarzer Unterkleidung dar und brechen in sich zusammen. Dürfen sie nicht als Paradiesvögel zur wahren Pracht aufblühen, verlieren sie all ihre Kraft und sinken zu Boden. So ist der Abend, dessen Ausbeute in tänzerischer Kreativität eher bescheiden ist, dafür umso in modischer Hinsicht, zu einem Postulat für das Recht auf Selbsterfindung, Selbstdarstellung und Individualität ohne Grenzziehungen geworden. Das Publikum im Haus der Berliner Festspiele spendete der Arbeit minutenlangen Applaus mit Standing Ovations. Es zeigte klar: Wir haben eure Botschaft verstanden.
Birgit Schmalmack vom 16.8.23