Der ängstliche Nazi
Wir müssen uns den Nazi als ängstlichen Menschen vorstellen. Den wichtigsten Satz stellt Ingo Tomi gleich an den Beginn des Abends. Was sein Gegenüber Agnes Mann auch sofort hinterfragt. Ist der Neonazi nicht eher ein radikaler Wutbürger? Der gegen das System oponiert und es zerstören will?
Die beiden Performer:innen versuchen sich von möglichst vielen Seiten dem Thema Hass zu nähern, und zwar Hass aus der rechten Ecke. Einem Hass, der den Staat, das System in Frage stellt und beseitigen möchte. Dafür haben der Autor Matthias Naumann und der Regisseur Johannes Wenzel mit vielen Hass-Expert:innen gesprochen. Wie in einem Essay versuchen sie nun deren Erkenntnisse anhand von neun Kapitelüberschriften zu gliedern, um der Fülle gerecht zu werden. Da geht es um Identität, um Freiheit, Ohnmacht, Gewalt, Ökonomie, Kommunikation. Da werden Fragen aufgeworfen und versucht zu beantworten. Kann Hass etwa identitätsstiftend wirken? Kann man erst durch den Hass die Tiefe des Selbst spüren? Steht der Wunsch nach Sicherheit und Unterwerfung dem der eigenen Freiheit entgegen? Führt das Abtauchen im Netz zu einer Selbstgleichschaltung? Wurde 2015 ein Grundkonsens der Gesellschaft aufgekündigt oder stellte sich Deutschland endlich seiner Verantwortung, die es immer behauptet hatte? Zeigt sich in der Ohnmacht der Hass-Opfer eine sekundäre Victimisierung? Stellt sich in der Folge eine Hegemonie des Hasses ein? Für die Ergründung der Auswirkungen der Gewalt fuhr man sogar für eine Recherchereise nach Hanau. Das Füllhorn der wissenschaftlichen, geschichtlichen Thesen und der Erfahrung der NGOs ergießt sich über das Publikum.
Nur selten wird der Abend emotional. Aber im Kapitel Ökonomie bricht es aus Tomi heraus: „Ich hasse den Kapitalismus.“ Er entwirft ein Hochhaus des Neoliberalismus, in dem jeder seinen eigenen Fahrstuhl sitze und den Abgrund durch den Glasboden immer vor Augen habe. Der Zwang zum Aufstieg bestimme das Leben. Gefangen zwischen Angst und Gier. „Doch wer AH sagt muss auch BH sagen“, und schon sind die Beiden bei Björn Höcke. Bzw. bei einem seiner Anhänger, der bei einer seiner Reden in einen Rauschzustand der nun endlich gefundenen Lebensaufgabe gerät. Was direkt zur einzigen Spielszene des Abends überleitet. Während ein Journalist Bernd Höckel interviewt, reinigt er sich in einer kleinen Waschschüssel mit der Duschbrause. BH versucht währenddessen im Bademantel auf einer aufgeblasenen Riesenpille das Gleichgewicht zu halten. Der Journalist entlockt BH ein Geständnis: „Ich hasse Wasser!“ So verflüssigen sich am Schluss nicht nur alle rationalen Erörterungsversuche sondern auch das Konzept des Abends. Schlussfolgerungen aus der überbordenden Fülle der Erkenntnisse dieser Recherche zu ziehen und einem Ausweg aus den Dilemmata des Hasses zu finden, überlässt das Theaterkollektiv Futur II Konjunktiv dem Publikum. Denn das Schlusskapitel ist einfach nur mit „Ausgang“ überschrieben. Denn nun heißt es einen Ausgang aus diesem Abend zu finden. Halbherzig machen sich die Beiden gegenseitig ein paar Vorschläge und merken selbst, dass es eine einfache Lösung nicht gibt. Auch wenn sie das Schreckgespenst von Weimar im Laufe ihrer Aufklärungsperformance immer wieder an die Wand gemalt hatten, versuchen sie sich gegenseitig zu beruhigen: Aber die Geschichte wiederholt sich doch nicht, oder?
Birgit Schmalmack vom 18.10.21