Van Goghs Schmetterling, Lichthof
Die Erotik der Falten
Glattes ist unerotisch, nur das Spiel der Falten ist reizvoll. Das weiß Hannah. So lässt sie sich auf ein risikoreiches Abendteuer ein: Sie verführt ihren eigenen Vater. Oder lässt sich von ihm verführen? Zwischen ihnen liegen gut 35 Lebensjahre, doch das erhöht für die Vierzigjährige den Kitzel nur noch mehr. Denn bei ihr geht es gleichzeitig um mehr. Der Sex mit ihrem Vater ist zugleich eine Spurensuche nach ihren Wurzeln. Denn ihre Mutter hatte aus ihrem Erzeuger stets ein Geheimnis gemacht. Hannah fühlt sich nie ganz. Immer trieb sie eine unerfüllte Sehnsucht weiter. Wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß nicht, wo er hingeht, so glaubt sie. Deshalb vermutet sie hinter der Vereinigung mit ihrem Vater auch eine Rache an ihrer Mutter, zu der sie stets eine gestörte Verbindung hatte. Als uneheliche Tochter war sie für ihre Mutter 1950 eher eine Bürde als eine Freude.
Isabelle McEwen hat aus ihren Interviews mit der realen, heute 62-jährigen Hannah eine spannende Geschichte geschrieben, die im Lichthof von fünf Frauen unterschiedlichen Lebensalters erzählt wird. Sie berichten von einer Identitätssuche, die bis ans Äußerste geht. Fliegen wollte Hannah, doch zum Schluss ist sie sich nicht sicher, ob ihre zarten Flügel nicht so beschädigt sind, dass sie sich nie mehr wird erheben können. Eindringlich stellen die fünf Frauen verschiedene Aspekte von Hannahs Persönlichkeit dar. Die willenstarke Hannah (Judith Nerwerla) setzt ganz auf Lust, Rache und Risiko. Die junge Hannah (Dominique Marino) spielt mit ihrer Pupe die bösen Spiele nach, die mit ihr gespielt wurden. Die ältere Hannah (Monika Reinboth) versucht Bilanz zu ziehen. Die vierzigjährige Hannah (Eva Engelbach und Nora Siebold) reflektiert zugleich Vergangenheit und Zukunft.
McEwen inszeniert das Spiel der fünf Hannahs mit strenger, konzentrierter Struktur. Auf dem Boden sind mit Klebeband die wenigen Spielräume, die Hannah sich zubilligt, vorgezeichnet. Genau in die Quadrate werden die schlichten Holzhocker platziert. Wenige autobiographische Requisiten illustrieren dezent Hannahs Lebensweg. Die schwarzen figurbetonten Kleider betonen ihre attraktive Weiblichkeit. McEwen unterstreicht ihre Körperlichkeit mit klug eingesetzter Choreographie. Die willensstarke Hannah dreht sich minutenlang elegant und schwungvoll auf ihrem Hocker um sich selbst. Die kindliche Hannah rekelt sich unschuldig auf dem Boden. Auch bei der 40jährigen Hannah rutscht das Minikleid immer wieder über die Schenkel nach oben. Auch die 60jährige Hannah zeigt sich bauchfrei in schwarzem BH unter offener Kostümjacke. Die Videoaufnahmen einer nackten Frau, die ihren Körper selbstvergessen im Kreis drehen lässt, unterstützen Hannahs These. Immer näher geht die Kamera heran und zeigt: Erst das Spiel natürlicher, ungeschönter Haut eröffnet die ganze Vielfalt möglicher Erotik. Hannah hat alles gewagt. Sie hat einige Falten ihres Lebens geglättet, doch sie haben zu neuen Falten auf der Gegenseite geführt. Die unerfüllte Sehnsucht wird bleiben. Hannahs Suche nach Antworten auch.
McEwen stellt sehr hohe Anforderungen an ihre fünf Darstellerinnen. Kleine Unsicherheiten, die bei der Premiere noch zu bemerken waren, werden in den nächsten Aufführungen vom 25. bis zum 27.1.13 sicher verschwinden. Dem Frauenensemble ist ein wunderbar hintergründiger und poetischer Abend gelungen, der vermeintliche Regeln, Moral und Konventionen klug hinterfragt.
Birgit Schmalmack vom 25.1.13