Tauberbach, Alain Platel
Das Aussortierte und das Wertvolle
„I don`t agree with life“, stellt die Frau (Elsie de Brauw) gleich zu Beginn klar, während sie die Altkleider sortiert. Doch sie ist eine, die nicht aufgibt. Auch auf ihrer Müllhalde des Lebens bewahrt sie ihre Würde. Sie weiß um den Wert der Dinge, im Gegensatz zu all den Leuten, die sie anscheinend bedenkenlos weggeworfen haben. Denn sie lebt von diese Resterampe des Ausschusses. Während sie noch mit der Stimme aus dem Off über den Sinn und Unsinns des Daseins streitet, ragen aus den Kleiderbergen menschliche Gliedmaße wie Tentakel hervor. Langsam werden menschliche Körper sichtbar. Die Müllfrau hat fünf Mitbewohner (Bérengère Bodin, Lisi Estaras, Romeu Runa, Elie Tass, Ross McCormack) auf ihrer Halde, alle beschädigt von der Last ihres Lebens. Wie kleine Insekten haben sie sich den Verhältnissen angepasst. Wenn sie sich einander annähern, dann eher wie räudige Hunde, die sich schnell ihrer Triebe befriedigen wollen.
Sobald dazu allerdings Bach wunderschöne Kantaten erklingen, wird die Schönheit in dem Dreck erkennbar. Plötzlich erhalten die abgehackten Bewegungen eine neu gewonnene Geschmeidigkeit, die vorher nicht zu sehen war. Immer wieder stimmen die sechs Menschen leise summend unter den schwingenden Mikrophonen sanfte Melodien aus Bachs Werken an. So findet die Unrast und Brutalität der Armut einen kurzen Moment zu Ruhe und Zartheit.
Dann mischen sich verstörende Töne unter die harmonische instrumentale Musik Bachs: Ein Gehörlosenchor singt die Kantaten von Bach. Aus Bachs Wunderwerken der Harmonie wird eine anrührende Kakophonie der Töne.
Der belgische Choreograph Alain Platel ließ in seine Choreographie „Tauberbach“ Marcos Prado Dokumentarfilm über die Müllhaldenbewohnerin „Estamira“ in Rio de Janeiro und Artur Zmijewskis Gehörlosen- Chorprojekt „Tauber Bach“ einfließen. Platel sucht und findet in all diesem Aussortierten, nicht der Norm Entsprechenden und Absonderlichen viele schillernde Bruchstücke des Schönen und Erhabenen. Dann fahren die Tänzer mit den Scheinwerfertraversen noch oben und erheben sich über alles Irdische. Ein Abend, der den Zuschauern keine heile Welt vorgaukelt, sie nicht vor dem Verstörenden, Abstoßenden und Unangenehmen verschont und sie dennoch die kleine Inseln der Würde und der Schönheit entdecken lernt.
Birgit Schmalmack vom 1.12.14