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Virtuell und Theater - ein erlebter Widerspruch

Virtuell und Theater - ein erlebter Widerspruch

Zuerst war ein Hauch von freudiger Erwartung und Experimentierlust zu verspüren. Alle auf einmal geschlossenen Kulturstätten planten die Lücken kreativ zu füllen, die der Shut Down hinterlassen hatte. Plötzlich schien einiges möglich. Man würde kostenlos, barrierefrei von Sofa aus zusehen können, was sonst mit Ticketkauf, Schlangestehen, Pünktlichem Erscheinen, bis zum Ende Ausharren verbunden gewesen war. Wären vielleicht sogar neue interessante Formen möglich, die man bisher übersehen oder schlicht nicht genutzt hatte? Vielleicht war auch ein Festival per Zoom möglich und spannend? Mit unglaublich viel Energie, Erfindungsgeist, Spontaneität und Mut zum Ausprobieren wurden Ersatzangebote in Windeseile auf die Beine gestellt. Während die großen Staats- und Privattheater meist auf Streaming-Angebote setzten (oder sich manche der letzteren bewusst dagegen entschieden), erkundeten die Freie Szene zunächst durchaus lustvoll neue Formate im Netz.
Doch je länger und öfter man einsam vor den verschiedenen Screens in unterschiedlichen Größen verbrachte, desto klarer wurde: Genau das ist Theater nicht. Wenn man bisher noch nicht wusste, was Theater in seinem Innersten ausmacht, so konnte man dessen Ingredienzien während ihres Fehlens genau zu erkennen.
Theater ist kein Konsumieren von Konserven und eigentlich auch kein Dechiffrieren von Kachel-Bildchen in Video-Konferenzen. Es erlaubt kein Vor- und Zurückspulen, es erfordert die ungeteilte Anwesenheit an einem gemeinsamen Ort. Ja, auch eine Verabredung, diesen gemeinsamen Ort nicht eher zu verlassen, bis die Aufführung zu Ende ist. Theater erfordert nicht nur von den Machern sondern auch von dem Zuschauer Aufmerksamkeit und Hingabe. Theater ist kein Sich-Berieseln-Lassen. Wenn es zu einem Erlebnis werden soll, braucht es den ganzen Zuschauenden mit seinem Körper, mit seinen Sinnen, mit seinen Gefühlen und seinem Geist im selben Raum. Theater ist ein gemeinsam geteiltes Erlebnis mit allen Zuschauer/Innen und Schauspieler/Innen, das genau so nur in diesem Moment stattfinden kann. Kein Abend ist wie der nächste, auch wenn es um dieselbe Inszenierung mit den selben Mitwirkenden handelt. Das singuläre geteilte Erfahrung ist das Besondere m Theater.
Gerade in dem Versuch virtuellen Ersatz für diese Gemeinschaftserlebnisse zu finden, wurden die Leerstellen dieser Theater-Surrogate immer offensichtlicher. Zum Schluss verstärkten die Online-Angebote den Schmerz des Verlustes mehr als dass sie ihn linderten. Mit jedem Tag der geschlossenen Theatertüren wuchs die Bedeutung ihrer Öffnung. Für die Aufführung in den noch leeren Theatersäle kann es keinen virtuellen Ersatz geben. Diese Erkenntnis schmerzte zwar, ist aber auch beruhigend. Das Live-Erleben von künstlerischen Aktionen in der geteilten Gegenwart mit realen Menschen wird in näherer Zukunft durch keine virtuelle Anwendung reproduzierbar sein. Es braucht den unmittelbare Erlebnisraum mit echten Menschen, um seine Kraft zu entfalten.
Birgit Schmalmack vom 19.6.20